Einmischungen | Erkenntnisse | Fragen

18. März 2024

Gestern waren wir noch Kinder

Über Feminismus, Gendersternchen und schlechte Familienfeiern

Dieser Essay von Megan M. ist ein Gastbeitrag, Megan war Teilnehmerin am Seminar „Schreiben lernt man durch Schreiben“ im Wintersemester 2023/24 an der Universität Kassel. Eine Studien- bzw. Prüfungsleistungsvariante ist, einen Beitrag für meinen Blog zu verfassen. Diesen Essay veröffentliche ich sehr gern – er spricht mir aus dem feministischen Herzen! Danke, Megan!

Es ist der 18. Dezember 2023 und ich sitze in meinem Kinderzimmer. Ich lese auf meinem Smartphone, dass der Koalitionsvertrag in Hessen unterschrieben wurde. Ich weiß, was das bedeutet. Dass das Gendersternchen aus allen öffentlichen Instituten wie Unis, Schulen und dem Rundfunk verbannt wird. Dass das Gendersternchen aus meiner Uni verbannt wird? Ich bin wütend und ich habe direkt das Bedürfnis mit jemandem darüber zu reden. Aber ich kann nicht wütend sein und ich kann nicht darüber reden, weil ich zuhause bei meinen Eltern bin, in einem kleinen Dorf in Niedersachsen. Ich kann nicht wütend sein, weil das ja übertrieben wäre, weil das Hysterie wäre und weil es doch so viel Schlimmeres auf der Welt gebe als den Verzicht auf ein Gendersternchen. Generell kann ich nicht wütend sein, weil ich eine Frau bin. Es ist ein fast perfektes Timing, denn Weihnachten steht vor der Tür und die Entscheidung der Regierung bietet den perfekten Stoff für den jährlichen Familienstreit. Die Diskussion über Vegetarier*innen ist schon lange out. Sie wurde jedoch nie zueende diskutiert, sondern sie schwebt jedes Jahr wie kondensierte milchbleiche Diesigkeiten in Onkel Herberts Wohnzimmer umher. Geister der Vergangenheit. Die Jüngeren haben gelernt, ihre schiefen Blicke durch Worte zu ersetzen, bis die Älteren ihre Worte durch schiefe Blicke ersetzen. Weil es keinen Zweck habe. Aber ist das nachhaltig? Oder sind schiefe Blicke nicht sogar bitterer als Worte? Ich weiß jedenfalls – beides tut weh. Jedoch auf eine unterschiedliche Weise.
Als mein Onkel mich schließlich fragt, ob ich abgenommen habe, will ich die Familienfeier verlassen. Als mein Onkel mich fragt, warum ich denn immer noch keinen Freund hätte, weiß ich nicht, was ich antworten soll. Weil ich selbst genau weiß, warum. Weil ich keinen Freund will. Was ich ihm dann sage. Er denkt, es sei Sarkasmus oder so etwas. So etwas, was Frauen sagen, wenn sie hohe Ansprüche haben oder kompliziert sind. Ich weiß, dass ich beides nicht bin. Ich möchte, dass mich jemand so etwas fragt wie, was ich heute gefrühstückt habe. Mein anderer Onkel fragt mich schließlich, womit ich die meiste Zeit meistens Lebens verbringe. Und ich denke nach und komme zu dem Schluss: mit Nachdenken. Als ich mit meinen Schwestern und Cousinen ein Spiel spiele und wir trinken und aufrichtig lachen, gucken die Älteren zu, als würden wir eine Straftat begehen.
Übers Gendern wird Gott sei Dank nicht geredet. Als ich zuhause bin, lese ich Kommentare auf Instagram zu dem Thema. Einer schreibt, dass alles einfach so bleiben soll wie immer. Wirklich? Wenn alles so geblieben wäre, wie es eben ist, dann würden Nazis immer noch Juden vergasen. Dann würde Versklavung immer noch legal sein. Und klar, man kann diese Dinge nicht miteinander vergleichen. Es ist Ende Dezember und ich schreibe eine Hausarbeit über Black Lives Matter. Ich entscheide mich, weiterhin zu gendern. Ich habe keine Angst vor einem Notenabzug.
Angst habe ich und hatte ich immer nur davor, nicht ich selbst zu sein. Angst habe ich davor, nicht authentisch zu sein. Ich bin eine Frau und ich entscheide mich, weiterhin zu gendern, und wenn ich deshalb einen Notenabzug bekommen, dann soll es wohl so sein. Den lächle ich getrost weg. Ich bin keine Heldin deshalb und es ist mir fast peinlich, darüber zu schreiben. Denn das ist nicht meine Persönlichkeit. Meine Persönlichkeit besteht nicht lediglich daraus, feministisch zu sein und allen Menschen davon zu erzählen, was ich als ungerecht empfinde. Ich wünsche mir sogar, ich müsste das nicht tun, und ich wünsche mir, dass Feminismus nicht als nerviges Persönlichkeitsmerkmal angesehen wird – sondern als Notwendigkeit –, und ich wünschte mir, ich könnte über etwas anderes schreiben. Über meine Katze zum Beispiel. Aber es ist eine Notwendigkeit, die aus so vielen Momenten entsteht. Momente, die tagtäglich erlebt werden und die negiert werden von Menschen, die sie eben niemals selbst erleben können und werden. Weil: Wenn es sich häuft, dann macht das was mit einem. Und auch wenn es sich nicht häuft, dann macht das was mit einem. Weil schwere Dinge einen verändern und weil man sie mit sich trägt. Und wenn dann Menschen sagen, man würde übertreiben, man sei primitiv, dann macht das noch mehr kaputt und dann wird man zum Geist. Geist seiner Vergangenheit.
Ich frage mich manchmal, wie ich wäre, wenn ich keine Frau wäre. Es geht manchmal um Veränderungen und ums große Ganze. Es ist ein Gendersternchen. Aber es geht ums Prinzip. Dieses Prinzip gilt auch für Black Lives Matter oder für die Letzte Generation. Diese Menschen riskieren ihr Leben und sie riskieren Jobs, um irgendetwas zu verändern. VERÄNDERUNG. In einer Kolumne, die ich für meine Hausarbeit lese, schreibt Magarete Stokowski, dass die Französische Revolution ja auch nochmal vorn vorne und gesittet stattfinden müsste, wenn Demonstrationen ihre Berechtigung verlieren, sobald ein Sack Möhren geplündert wird. Mario Barth schreibt, er würde erst gendern, wenn Frauen das gleiche Gehalt bekämen. Ich bin verwirrt. Das ist in etwa so, als würde man sagen, man soll psychisch kranken Menschen erst helfen, wenn es ihnen wieder etwas besser geht. Aber einer der Gründe, warum sie überhaupt so krank sind, ist, dass ihnen nicht geholfen wurde.
Denn Sprache schafft Wirklichkeit. Ich habe mal eine Studie gelesen, in der festgestellt wurde, dass Mädchen sich eher Berufe zutrauen, wenn bei der Frage, ob sie sich diesen Beruf zutrauen, gegendert wird. Das passiert unterbewusst. Gendern wäre nicht das Heilmittel gegen Ungerechtigkeit. Aber eben ein Teil davon. Ein kleiner Schritt in die richtige Richtung. Und dafür nehmen wir in Kauf, dass Onkel Herbert auf der nächsten Familienfeier sagt, wir seien empört über alles und hassen die Welt. Wir seien undankbar und uns selbst zu viel wert. Denn wir sind mehr. Und das wissen wir.


26. Februar 2024

Spezielle Selbstzuschreibungen

Ein Prozess der besonderen Art

Ich stricke mich Erdhügel hinauf und wieder hinunter, und wenn ich unten bin, reppele ich alles wieder auf. Kirsten A.
Seufzend, knisternd, knirschend löse ich manche Probleme oder auch nicht! Waltraut M.
Querflötenfunkeln durch die Sonne lässt mich den Hexenschuss besser ertragen. Felicitas F.
Kann herzenswarm sein wie ein Flauschefell – oft kleiner als ein Erdhügel.
Ich möchte auf dem Erdhügel stehen und dieses Knistern endlich spüren. Mechthild M.
Meine Seele im Erdhügel, braun und knisternd, erstaunt mich immer wieder. Angelika L.
Manchmal trage ich die Borke nach außen und das Flauschefell nach innen, manchmal wird die Haut aber auch gewendet. Karla K.
Stricken und Querflötespielen bringen mein Gleichgewicht in jeder Dimension zum Funkeln. Anke M.
Warm wie Pferdefell und ein mit Pflanzensamen bedeckter Erdhügel. Helena L.


22. Januar 2024

Wehrt euch …

Demonstrationen am Wochenende

Hunderttausende gingen am vergangenen Wochenende auf die Straßen in Deutschland, um gegen Menschenfeindlichkeit, Rassismus und Faschismus zu demonstrieren. Ich war leider nicht auf der Straße, sondern in einem Workshop auf der Burg Fürsteneck – aber mit dem Herzen und in unseren Texten waren wir dennoch dabei! Mitgesungen habe ich auch auf dem Weg über das schneebedeckte Feld (nach der Melodie von: Hejo, spann den Wagen an …):
Wehrt euch, leistet Widerstand
gegen den Faschismus hier im Land!
Auf die Barrikaden, auf die Barrikaden! (da capo)


18. Dezember 2023

Erste Sätze

Welche sind überzeugend?

Der schönste erste Satz< war ein im Jahr 2007 veranstalteter Wettbewerb der Initiative Deutsche Sprache und der Stiftung Lesen. Gesucht wurde der schönste erste Satz in der deutschsprachigen Literatur. Die Gewinner des Wettbewerbs wurden am 6. November 2007 in der Alten Oper in Frankfurt am Main gekürt. Den Hauptpreis gewann der Anfang des Romans Der Butt von Günter Grass: „Ilsebill salzte nach.“ [...]
Mayrhofers Begründung beginnt folgendermaßen: „Ein Satz mit nur drei Wörtern? Auf deutsch? Und spannungsverheißend? Keine leichte Aufgabe. Aber Günter Grass hat sie in meinen Augen bewältigt und mir persönlich mit dem Butt nicht nur eines meiner Lieblingsbücher, sondern auch einen genialen ersten Satz beschert. Ilsebill… komischer Name. Eine echte Ilsebill ist mir in meinem bisherigen Leben noch nie über den Weg gelaufen, aber da gibt es doch dieses Märchen vom Fischer und seiner Frau, eben jener Ilsebill. ‚Myne Fru, de Ilsebill, will nich so, as ik wol will.‘“ (Lukas Mayrhofer)
Den zweiten Platz belegte Franz Kafkas Einstieg in die Erzählung Die Verwandlung: „Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt.“
Der dritte Preis ging an die Erzählung Der Leseteufel aus So zärtlich war Suleyken von Siegfried Lenz: „Hamilkar Schaß, mein Großvater, ein Herrchen von, sagen wir mal, einundsiebzig Jahren, hatte sich gerade das Lesen beigebracht, als die Sache losging.“
(Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Der_sch%C3%B6nste_erste_Satz)

Mich haben in diesem Jahr folgende erste Sätze überzeugt und mich so in die entsprechenden Romane hineingezogen:

  • „Erst war es nur ein Wort.“ (Nava Ebrahimi: Sechszehn Wörter)
  • „Nullte Stunde, Montagmorgen, Planetarium.“ (Grit Lemke: Kinder von Hoy)
  • „Beispielsweise habe ich ,es‘ dir nie offiziell gesagt.“ (Kim de l’Horizon: Blutbuch)
  • „Genau hier beginnt meine Geschichte: In diesem Zimmer, das kein Zimmer ist, aber ein Zuhause.“ (Chantale-Fleur Sandjon: Die Sonne, so strahlend und schwarz – Jugendbuch)
  • „Ob dünn oder dick – auf jeden Fall schick.“ (Daniela Kulot: Zusammen! – Bilderbuch)


16. Oktober 2023

t wie Tagebuch – Ergänzungen

Teil 2: Schwerpunktsetzungen

Demnächst erscheint das sechste Heft meiner Reihe 26+4: t wie Tagebuch. Am 9. Oktober 2023 habe ich – in Ergänzung zum Inhalt des Heftes – einen kurzen Abriss der allgemeinen Geschichte des Tagebuchschreibens gepostet. Wenn du dich vertiefter mit einzelnen Schwerpunkten befassen möchtest, kannst du das mit den folgenden Werken tun.

Tagebücher von Frauen
Verena von der Heyden-Rynsch unternimmt einen analytischen Streifzug durch Tagebücher europäischer Schriftstellerinnen und Künstlerinnen aus drei Jahrhunderten; sie diskutiert die Gründe für „das Erscheinen der Frau in einer literarischen Gattung, die, wie viele andere, jahrhundertelang männlicher Autorschaft vorbehalten war“ (Heyden-Rynsch 1997: 19), und zeigt auf, dass im 20. Jahrhundert das Tagebuch für Frauen nicht nur ein Ort der Selbstspiegelung war, sondern auch „Freiraum für schöpferische Prozesse“ (ebd.: 22).
Lejeune befasst sich mit Tagebüchern von Mädchen im 19. Jahrhundert und stellt fest, dass sie entgegen aller Vorurteile weder banal noch vorwiegend religiös oder hübscher Zeitvertreib sind, sondern selbstkritisch, feministisch und poetisch (Lejeune 2014: 161ff.).

Schreiben unter Lebensgefahr
Das Tagebuch der Anne Frank (1929–1945) ist das weltweit wahrscheinlich am meisten als Dokument und Kunstwerk rezipierte Tagebuch aus der NS-Zeit (in der vergleichsweise viele Menschen Tagebuch geschrieben haben); es liegt in zwei von ihr selbst bearbeiteten Fassungen und einer ihres Vaters vor (vgl. Frank 2002; Lejeune 2014: 195ff.).
Denise Rüttinger hat ihre Dissertation (2011) den Tagebüchern des jüdischen Schriftstellers Victor Klemperer (1881–1960) gewidmet, der 62 Jahre lang nahezu täglich Tagebuch führte; besonders bedeutsam für die deutsche Erinnerungskultur ist Klemperers ausführliche, genaue und persönliche Chronistik der nationalsozialistischen Herrschaft vom ersten bis zum letzten Tag dieser zwölf Jahre: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten (1995).
Renata Laqueur, die selbst im KZ Bergen-Belsen Tagebuch geschrieben hat, widmet ihre Dissertation (1992) der vergleichenden literaturwissenschaftlichen Analyse von 13 in KZs verfassten Tagebüchern.
Auch unter anderen diktatorischen Regimen wie z. B. in der UdSSR oder in China sind Tagebücher entstanden und später veröffentlicht worden (vgl. dazu Wuthenow 1990: 142ff.; Ai 2011).

Integration von Werk und Leben
Wuthenow stellt Samuel Pepys (1633–1703) vor. Dieser war Staatssekretär und Unterhausabgeordneter und wurde in den Jahren 1660 bis 1669 zum Chronisten der Restaurationszeit in England, in denen er Tagebücher von einer bis dato unbekannt breiten Materialfülle verfasste – mit allem, „was ihn anging“ (Wuthenow 1990: 120ff.; vgl. auch Pepys 2010).
Lejeune stellt Marc-Antoine Jullien (1775–1848) vor, der in der Armeeverwaltung und als Kulturjournalist tätig war und viele Jahre seines Lebens drei Tagebücher nebeneinander führte; und er beschreibt die Tagebuchpraxis des Pierre Hyacinthe Azaïs (1766–1845), der – meistens während des Gehens (Azaïs gilt als Erfinder des Schreibens im Freien) – 35 Jahre lang von 1810 bis 1844 auf losen Blättern 366 Tagebücher parallel führte, eins für jeden Tag (vgl. Lejeune 2014: 137ff.).
Franz Kafka hat als Tagebuchautor „die vermeintlich banale Tagesform in den kühnsten Versuchsanordnungen erkundet – in überbordenden Schreibexzessen, rhythmischen Unterbrechungen und minimalistischen Nulleinträgen, in changierenden Ich-Gefügen und hochkomplexen Fiktionalisierungen“ (Holm 2008: 78; vgl. auch Kafka 1994 und Schärf 2012).
Anaïs Nin (1903–1977) schrieb von 1914 bis 1974 Tagebuch (vgl. 1981 und 1991), bereits als Elfjährige auf einem hohen poetischen und intellektuellen Niveau; auch sie mischt die Genres und steht literaturhistorisch insbesondere für die Ausformulierung erotischer und sexueller Szenen (vgl. Salber 1992).
Diese Personen (wie auch Victor Klemperer) stehen beispielhaft für eine Leben, das sich im Schreiben reflektiert und vom Schreiben leiten lässt (Lejeune 2014).

Literatur
Ai, Weiwei (2011): Macht euch keine Illusionen über mich. Der verbotene Blog. Berlin: Galiani
Frank, Anne (2002): Tagebuch. Einzig autorisierte und ergänzte Fassung, 2. Auflage. Frankfurt/Main: S. Fischer
Heyden-Rynsch, Verena von der (1997): Belauschtes Leben. Frauentagebücher aus drei Jahrhunderten. Düsseldorf/Zürich: Artemis & Winkler Holm, Christiane (2008): Montag Ich. Dienstag Ich. Mittwoch Ich. Versuch einer Phänomenologie des Diaristischen. In: Gold, Helmut / Holm, Christiane / Bös, Eva / Nowak, Tine (Hg.): absolut privat. Vom Tagebuch zum Weblog. Heidelberg: Edition Braus im Wachter Verlag: 10–50 Kafka, Franz (1994): Tagebücher in der Fassung der Handschrift. Frankfurt/Main: S. Fischer
Klemperer, Victor (1995): Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933–1945. Hrsg. von Walter Nowojski unter Mitarbeit von Hadwig Klemperer. Berlin: Aufbau
Laqueur, Renata (1992): Schreiben im KZ. Tagebücher 1940–1945. Bremen: Donat
Lejeune, Philippe (2014): „Liebes Tagebuch“. Zur Theorie und Praxis des Journals. München: belleville
Nin, Anaïs (1981): Das Kindertagebuch. Bd. 1 1914–1919; Bd. 2 1919–1920. München: Nymphenburger
Nin, Anaïs (1991): Henry, June und ich: intimes Tagebuch 1931–1932. München: Knaur
Pepys, Samuel (2010): Die Tagebücher 1660–1669. Berlin: Haffmans & Tolkemit
Rüttinger, Denise (2011): Schreiben ein Leben lang. Die Tagebücher des Victor Klemperer. Bielefeld: transcript
Salber, Linde (1992): Anaïs Nin. Rowohlt Monographie mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek: Rowohlt
Schärf, Christian (2012): Schreiben Tag für Tag. Journal und Tagebuch. Duden-Reihe zum Kreativen Schreiben, hrsg. von Hanns-Josef Ortheil. Mannheim/Zürich: Duden
Wuthenow, Ralph-Rainer (1990): Europäische Tagebücher: Eigenart, Formen, Entwicklung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft


9. Oktober 2023

t wie Tagebuch – Ergänzungen

Teil 1: Geschichte des Tagebuchschreibens

Demnächst erscheint das sechste Heft meiner Reihe 26+4: t wie Tagebuch. Ich hätte drei Hefte mit dem füllen können, was ich recherchiert und zusammengeschrieben hatte … Irgendwann dann habe ich das Kürzen aufgegeben – es war eh keine Lösung, hier mal ein Wort oder dort mal ein Zitat oder einen Verweis zu streichen – und mich entschieden, ganze Teile auszulagern und hier zu veröffentlichen. So musste ich mich nicht von ihnen verabschieden, konnte aber die Seitenzahl des Heftes im Rahmen halten – und war sehr zufrieden mit dieser Lösung (die ich einem Feedbackgespräch mit meiner Testleserin und Kollegin Susanne W. verdanke).
Jetzt also Teil 1: Geschichte des Tagebuchschreibens. Teil 2 (Schwerpunktsetzungen) folgt am 16. Oktober 2023.
Die im Text erwähnte Sekundärliteratur findest du am Ende. Die erwähnten veröffentlichten Tagebücher sind nicht aufgeführt; sie sind in der kommentierten Literaturliste aufgeführt, die mit Kauf des Heftes als PDF zur Verfügung gestellt wird.

Die Ursprünge
Bis zum Ende des 20. Jahrhundert hat sich die Forschung vor allem auf die Inhalte der Tagebücher als kulturhistorisch interessante Quellen in den Blick genommen. Ich habe mich auf die Möglichkeiten der Gattung für das Kreative Schreiben (in Gruppen) fokussiert und mich auf den abendländischen Kulturraum beschränkt.
Aus dem 6. Jahrhundert v. u. Z. stammen Fragmente von babylonischen Tontafelkalendern mit Eintragungen etwa zu Gestirnskonstellationen, Wetter und Getreidepreisen (vgl. Boerner 1969: 38). Die ältesten Tagebücher, die einer Person zuzuordnen sind, entstanden in der Antike, u. a. durch den römischen Kaiser (und Philosophen) Marc Aurel, der im 2. Jahrhundert n. u. Z. im Feldlager seine Gedanken und Einsichten festhielt und damit das betrieb, was die Antike „Seelenführung nennt: die Selbstbeeinflussung durch Schreiben und Lesen“ (Butzer 2008: 94), also kritische literale Selbst-Bildung – von der allerdings die Mehrheit der Menschen, vor allem aber der Frauen Jahrtausende ausgeschlossen war.
Im quasi nicht literalisierten abendländischen Mittelalter wurden neben Kirchen-, Haushalts- und Geschäftsbüchern Chroniken üblich, die z. B. Stadtschreiber fortschrieben. Auch einige wenige Tagebücher von Mönchen und Nonnen sind überliefert.

Die Neuzeit
Seit der Renaissance (16. Jahrhundert) spiegelt sich immer stärker die Individualität der Schreibenden; Tagebücher wurden – als Bet- und Beichtbücher sogar von der Kirche gefördert – Instrumente der Selbstbeobachtung, -kontrolle und -findung. Impulse bekam das Tagebuchschreiben auch durch das Aufkommen individuellen Reisens (vgl. Boerner 1969: 40).1
Mit der Entwicklung des bürgerlichen Subjektbegriffs im Zuge der Aufklärung bekam die Schwerpunktsetzung auf Introspektion und Selbstregulation eine zentrale Bedeutung. Möglich durch die sich langsam durchsetzende allgemeine Beschulung wurde das Tagebuchschreiben zunächst in Adel und Bürgertum insbesondere bei jungen Leuten in Frankreich ein verbreitetes, tägliches Ritual (vgl. Sperl 2010). Auch etablieren sich im 18. Jahrhundert in geisteswissenschaftlichen und Künstler:innen-Kreisen sogenannte Sudelbücher – heute werden sie meist Werkstatt- oder Arbeitsjournal genannt.
Um 1750 wurden erstmals – zunächst privat geführte – Tagebücher veröffentlicht. Ebenfalls schon seit dieser Zeit gibt es vor allem für Frauen bestimmte, oft abschließbare und vorgefertigte Tagebücher zu erwerben. Das Tagebuchschreiben (wie das Briefeschreiben) als private Tätigkeit wurde mehr und mehr Frauen zugeschrieben. Veröffentlicht werden bis heute deutlich mehr Tagebücher von Männern (vgl. Lejeune 2014). Beim Suchen unter dem Stichwort Tagebuch im Netz entsteht der Eindruck, dass die aktuell anvisierte Klientel ebenfalls vorwiegend weiblich: Vorgedruckte oder vorstrukturierte Tagebücher für Mädchen, für Conni-, Lotta- und Pferdefreundinnen, für Schwangerschaft und Krisenbewältigung bilden den Großteil des Angebots.
Mit der Romantik und der Hinwendung des Ichs zu sich selbst als eine Auswirkung der als bedrohlich empfundenen gesellschaftlichen Veränderung durch die Industrialisierung erhielt das schreibende Beleuchten der Stimmungen und Empfindungen des Subjekts noch einmal größere Bedeutung. Die Verortung im Bürgerlichen löste sich; gesellschaftliche Verwerfungen erhöhten die Schreibanlässe, immer mehr Menschen begriffen sich als historisch Gewordene und nutzten das Tagebuch auch als Ort der Entwicklung individuell neuer Lebensperspektiven (vgl. Streuwer/Graf 2015).
Das introspektive, analysierende Tagebuchschreiben als selbstwirksames Hilfsmittel in persönlichen Krisen und als therapeutisches Instrument wurde um 1900 bekannt.2
Die heute am weitesten verbreitete Form, die vor allem weibliche Jugendliche zu einem hohen Prozentsatz einmal ausprobieren, ist die des Tagebuchs als ein vertrauter, geheimer Gefährte, die die Katharsisfunktion des Schreibens in den Vordergrund stellt. Diese Form ist ein Kind der Romantik. Ebenfalls im 19. Jahrhundert fand die „Emanzipation der Tagebuchform als literarisches Medium“, die Entdeckung des „Tagebuchs als literarische Werkstatt“ und die Integration fiktiver Tagebücher in die Literatur statt (Boerner 1969: 51) – mit Auswirkung wiederum auf das private Tagebuch.3

Die Jetztzeit
Seit Beginn des 20. Jahrhunderts hat sich eine enorme Bandbreite der Gattung Tagebuch entwickelt. Neu hinzugekommen ist z. B. das Brieftagebuch als Ersatz für echte Korrespondenz etwa in Kriegsgefangenschaft (vgl. dazu Sederberg 2015); auch das explizit politische Tagebuch ist in der Mitte des 20. Jahrhunderts entstanden in Zeiten der Instabilität und des Umbruchs und insbesondere in Diktaturen (vgl. ebd.). In Deutschland wurden besonders viele Tagebücher in der NS-Diktaturzeit geschrieben und später veröffentlicht.4
Seit den 1960er Jahren werden auch zunehmend experimentelle, multimediale Tagebücher geführt, Collagen, Palimpseste usw.
Meist geht es den Schreibenden der Moderne und Postmoderne nach wie vor um Icherkenntnis und Weltdeutung, um Retrospektive und aktiv gestaltete Selbstentwürfe, die Formen aber sind mannigfaltig. Außerdem führen manche Menschen mehrere Tagebücher parallel, etwa eins, mit dem kreative Prozesse begleitet werden, ein zweites als Ventil für leidvolle Erfahrungen, ein drittes als Journal oder „anarchisches Notizbuch“ (Schärf 2012: 24) usw.
Der Schriftsteller Rainald Goetz hat ein solches anarchisches Tagebuch ohne Rangordnung der Inhalte vorgelegt: Vom 4. Februar 1998 bis zum 10. Januar 1999 gestaltete er sein täglich wachsendes Online-Tagebuch Abfall für alle (erschienen 2003) – und war damit einer der Pioniere der Weblog-Bewegung (vgl. dazu auch Porombka 2008).
Seit der Jahrtausendwende haben sich Blogs und Social Media-Netzwerke (wie Twitter, Instagram oder TikTok) zu millionenfach genutzten Plattformen für öffentliche und zu einem hohen Prozentsatz auf Kollektivität angelegte Tagebuch-Formate entwickelt (vgl. dazu z. B. Smith 2022). Und auf Youtube existieren auch Videotagebücher, Vlog genannt.
In der Corona-Zeit gab es geradezu einen Boom des Tagebuchschreibens, insbesondere haben seither strukturierte und die Gestaltung miteinbeziehende Formen wie das Bullet Journal Konjunktur.
Wenn du tiefer in die Historie des Tagebuchschreibens einsteigen möchtest, dann empfehle ich den Sammelband Gold et al. (2008), die Untersuchungen von Sperl (2010) und Dusini (2005), die Zusammenfassung in Surd-Büchele (2013), die Essaysammlung von Lejeune (2014) sowie die umfassenden deutschsprachigen Veröffentlichungen zur Gattung Tagebuch von Boerner (1969) und Wuthenow (1990).

Endnoten
1 Auf die Sonderform des literarischen Reisetagebuchs werde ich hier nicht explizit eingehen, es gibt viele bekannte, die sich (noch einmal) zu lesen lohnen, wie z. B. Die Fahrt der Beagle von Charles Darwin (2008), das Irische Tagebuch von Heinrich Böll (1975) oder Maries Reise von Marie Pohl (2002).
2 Seit den 1970er Jahren werden mehr und mehr Tagebücher veröffentlicht, in denen sich die Verfasser:innen mit schweren Erkrankungen auseinandersetzen; zwei seien hier genannt: Auf Leben und Tod. Krebstagebuch von Audre Lorde (1994/1980) und Arbeit und Struktur von Wolfgang Herrndorf (2013, vorher als Blog).
3 Am besten untersucht im deutschsprachigen Raum sind wohl die literarischen Tagebücher des Max Frisch (1991); als weiteres Beispiel möchte ich Christa Wolfs Tagebuchprojekt nennen (2003, 2013). Als bedeutsame Beispiele für die Integration fiktiver Tagebücher in Romane gelten Das goldene Notizbuch von Doris Lessing (1982/1962) und Der Ekel von Jean-Paul Sartre (1982/1938).
4 Die berühmtesten sind wohl das Tagebuch der Anne Frank (2002) und Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten des Victor Klemperers (1995).

Literatur
Die erwähnten veröffentlichten Tagebücher sind hier nicht aufgeführt, sondern sind in der kommentierten Literaturliste enthalten.
Boerner, Peter (1969): Tagebuch. Stuttgart: Metzler
Butzer, Günter (2008): Sich selbst schreiben. Das Tagebuch als Weblog avant la lettre. In: Gold et al.: 94–96
Dusini, Arno (2005): Tagebuch. Möglichkeiten einer Gattung. München: Wilhelm Fink
Gold, Helmut / Holm, Christiane / Bös, Eva / Nowak, Tine (Hg.) (2008): absolut privat. Vom Tagebuch zum Weblog. Heidelberg: Edition Braus im Wachter Verlag
Lejeune, Philippe (2014): „Liebes Tagebuch“. Zur Theorie und Praxis des Journals. München: belleville
Porombka, Stephan (2008): Rainald Goetz: Abfall für alle (1998/99). In: Porombka, Stephan / Schütz, Erhard (Hg.): Klassiker des Kulturjournalismus. Berlin: B&S Siebenhaar: 224–227
Schärf, Christian (2012): Schreiben Tag für Tag. Journal und Tagebuch. Duden-Reihe zum Kreativen Schreiben, hrsg. von Hanns-Josef Ortheil. Mannheim/Zürich: Duden
Sederberg, Kathryn (2015): Als wäre es ein Brief an dich. Brieftagebücher 1943–1948. In: Streuwer/Graf: 143–162
Sperl, Irmela (2010): Geschriebene Identität – Lebenslinien in Tagebüchern. München: Herbert Utz
Streuwer, Janosch / Graf, Rüdiger (Hg.) (2015): Selbstreflexionen und Weltdeutungen. Tagebücher in der Geschichte und der Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts. Göttingen: Wallstein
Surd-Büchele, Stefanie (2013): Tagebuch: Schreiben und Denken. Eine empirisch basierte Verhältnisbestimmung. Berlin: Lehmanns
Wuthenow, Ralph-Rainer (1990): Europäische Tagebücher: Eigenart, Formen, Entwicklung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft


28. August 2023

Renaissance des Patriarchats

Eine Analyse zum Thema Wiederentdeckung der Männlichkeit

Fassungslos eher als wütend registriere ich die Erscheinungen eines wieder salonfähig scheinenden Sexismus in westlichen Gesellschaften. Eine Renaissance des Patriarchats scheint sich anzubahnen. Die Kultivierung wehrhafter Männlichkeit, die Ausbreitung von Frauenhass und Sexismus, die Benutzung der Debatten über Gendern und Diversität – wie gerade darüber die rechtsextremen Gruppierungen einschließlich der AfD sich profilieren, macht mich noch fassungsloser. Wie können denn gebildete Menschen nicht verstehen, was da passiert, wie etwas und sie instrumentalisiert werden?
Die Journalistin und Rechtsextremismusforscherin Susanne Kaiser hat ein kluges analytisches Buch darüber geschrieben, wie und warum eine gefährliche Männlichkeit sich Raum nimmt.
Der Klappentext: „,Wir müssen unsere Männlichkeit wiederentdecken‘, appelliert Björn Höcke an den deutschen Mann. Mit dieser Forderung ist der AfD-Politiker nicht allein: Von Neuseeland bis Kanada, von Brasilien bis Polen vernetzen sich Rechtspopulisten, sogenannte ,Incels‘, aber auch christliche Abtreibungsgegner unter dem Banner der Männlichkeit, um Frauen auf einen nachrangigen Platz in einer angeblich natürlichen Hierarchie zurückzuverweisen. Susanne Kaiser bietet einen kompakten Überblick über die Geschichte und das Programm dieser Bewegung. Sie wertet Diskussionen in der ,Mannosphäre‘ aus, zeigt internationale Verbindungen auf und fragt, warum rechte Mobilisierung überall auf der Welt gerade über die Themen Gender Studies, LGBT-Rechte und Geschlechterrollen funktioniert.“

Susanne Kaiser: Politische Männlichkeit. Wie Incels, Fundamentalisten und Autoritäre für das Patriarchat mobilmachen. Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt/Main 2020

Ein halbstündiges Interview mit Susanne Kaiser im SWR1 vom 12. 4. 2021 ist hier zu hören.


21. August 2023

Verharmlosung und Verkennung

Wie Errungenschaften mit Füßen getreten werden

Nachdem der Präsident des spanischen Fußballverbands Luis Rubiales eine der Weltmeisterinnen – Jennifer Hermoso – vor laufenden Kameras auf den Mund geküsst hatte, empörten sich viele Menschen öffentlich, aber im nicht-öffentlichen Raum, in dem auch ich mich meistens bewege, sind ganz andere Töne zu hören: Das war doch spontan! Vielleicht hatten die ja mal was miteiander und jetzt rächt sie sich. Haben wir denn keine anderen Probleme?!
Der Akt wird verharmlost, der Frau wird die Schuld zugewiesen, die Auseinandersetzung wird abgewehrt. Ich bin sprachlos – und schreibe und schreibe und glaube es nicht, was möglich ist nach Millionen geschriebener Analysen, nach Jahrzehnten (Jahrhunderten, Jahrtausenden) des Kampfes. Was kann ich denn jetzt noch schreiben? Was erreicht wen? Mit was erreiche ich überhaupt irgendwen? Ich in meiner bürgerlichen Schreibszenenblase?
Ich begebe mich auf die Suche – und finde: die Gewaltpyramide. Möge sie zur Reflexion des eigenen Handelns anregen.

Mehr zum Thema findest du u. a. hier:
https://vawnet.org/material/pyramid-discrimination-and-violence
https://pcar.org/sites/default/files/resource-pdfs/racial_sexual_violence_pyramid.pdf


19. Juni 2023

Wenn mir nichts einfällt 2

Wirklich meistens froh machende Alternativen
(obwohl ich ja eigentlich etwas Anderes wollte)

Wenn mir nichts einfällt, mache ich eine Liste.
Wenn mir nichts einfällt, schreibe ich trotzdem.
Wenn mir nichts einfällt, schaue ich den Spuren nach.
Wenn mir nichts einfällt, mache ich einen Pseudotext.
Wenn mir nichts einfällt, mache ich einen Schnipseltext.
Wenn mir nichts einfällt, schreibe ich ein Haiku oder zwei.
Wenn mir nichts einfällt, gehe ich um den See.
Wenn mir nichts einfällt, gehe ich zu den Kirschen.
Wenn mir nichts einfällt, schreibe ich lange aufgeschobene Mails.
Wenn mir nichts einfällt, erfinde ich Schreibaufgaben.
Wenn mir nichts einfällt, spüle ich.
Wenn mir nichts einfällt, zeichne ich, am liebsten ohne hinzusehen.
Wenn mir nichts einfällt, schaue ich fern.
Wenn mir nichts einfällt, rufe ich Mama an.
Wenn mir nichts einfällt, schreibe ich eine Postkarte, manchmal gar einen Brief.
Wenn mir nichts einfällt, tippe ich meine Texte ab.
Wenn mir nichts einfällt, schreibe ich automatisch.
Wenn mir nichts einfällt, schaue ich aus dem Küchenfenster.
Wenn mir nichts einfällt, notiere ich Grüntöne.
Wenn mir nichts einfällt, lese ich etwas über leergeschrieben.
Wenn mir nichts einfällt, lese ich etwas über Flow.
Wenn mir nichts einfällt, schreibe ich trotzdem.
Wenn mir nichts einfällt, mache ich eine Liste.


29. Mai 2023

Wenn mir nichts einfällt

Ich frage Kolleginnen

Manchmal ist es kein reines Vergnügen, die Versprechen, die ich mir selbst gegeben habe, wirklich konsequent einzulösen. Zum Beispiel habe ich mir versprochen, jeden Montag einen BlogPost zu veröffentlichen. Was ich seit neun Jahren tue. Vielleicht drei oder vier Wochen im Jahr setze ich aus, weil ich dann keinen Zugang zum Rechner habe. Aber an den anderen 48 oder 49 Montagen erscheint ein BlogPost. Manchmal erscheint er auch erst Dienstag oder Mittwoch – weil mir nichts eingefallen ist am Sonntag zwischen Kuchenessen und Tatortgucken oder weil so viel Anderes war, das mich abgelenkt hat … Jedenfalls ist es seit einiger Zeit so, dass mir hin und wieder mal nichts ein- oder zufällt – oder ich merke es nicht, dass mir etwas zufällt oder dass ich etwas, das mir zufällt, in einen BlogPost verwandeln könnte. Deshalb, weil mir eben die Ideen auszugehen schienen, habe ich letzten Mittwoch in meiner wundervollen Austauschrunde meine Kolleginnen Sigrid Varduhn und Ellen Volkhardt gefragt, was sie denn gern an den kommenden Montagen auf meinem Blog lesen würden – und siehe da, ich habe neue Ideen bekommen. Danke, danke! Was ich mit dieser kleinen Geschichte an dieser Stelle sagen will: Kollegialer Austausch ist nicht selbstverständlich – insbesondere für diejenigen wie mich, die freiberuflich meist alleine Schreibgruppen leiten –, aber so wertvoll. Und ab nächster Woche poste ich wieder voller Vergnügen, erst einmal ein paar Wochen lang zehrend von den Ideen der Kolleginnen!


10. April 2023

26+4: Das sechste Heft

Wie finde ich meinen Fokus?

Kleine Krise. Es gibt alles schon. Zu allem ist schon etwas geschrieben worden. Über 20 Bücher und auch etliche Aufsätze habe ich jetzt gesichtet. Was soll denn dann ausgerechnet ich noch zum Thema zu sagen haben?!
Ich könnte die alten Studiumsordner mal entsorgen. Ich könnte die alten Spielsachen sortieren. Den Kühlschrank putzen. Und der Wäscheberg ist auch schon wieder ganz schön hoch … Aber wenn ich mich diesen Dingen hingebe, werde ich zwar entsorgt, sortiert, geputzt und gewaschen haben, aber die Frage werde ich nicht beantwortet haben: was habe denn ich noch zum Thema zu sagen?
Die Krise wächst sich zu einer mittelgroßen aus. Jetzt habe ich fünf Hefte gemacht – wenn es mir mit den weiteren vierundzwanzig genauso ergehen wird wie mit dem, das mich gerade beschäftigt, dann … dann … Ich versaue mir meine Laune, meine kursfreie Zeit usw. usf. Für was? Für wen? Offensichtlich nicht für mich! Seufz. Grummel. Fluch.
Meinen Masterstudent:innen sage ich ja immer: Mach das Thema kleiner, finde ein Detail, das dich an diesem großen Thema besonders interessiert (zu dem im besten Fall noch nie jemand etwas Substanzielles geschrieben hat). Und natürlich schreibend das Thema klein kriegen. Mit Freewriting, fokussiert, mit einem Seriensprint, mit einer Schreibstaffel. Jetzt. Nicht morgen. Erst das. Dir glauben. Dein Versprechen dir selbst gegenüber einlösen. Nicht ausweichen. Später dann, als Belohnung sozusagen: das Entsorgen, Sortieren, Putzen und Waschen.
Und wenn es nicht klappt auf Anhieb? Noch mal ein Seriensprint. Noch eine Schreibstaffel. Zwischendurch kochen, essen, schlafen, um den See gehen. Manchmal, aber nur, wenn es schon begonnen hat zu gären, reift etwas beim Gehen (oder gar im Schlaf). Leider nicht auf Kommando. Aber ohne Angehen, ohne schreibendes Angehen reift gar nichts.
Jetzt also. Einatmen, ausatmen, schreiben. Und vertrauen (weil es doch bisher immer gutging).
Wie das sechste Heft heißen und welche Kleinheit und Neuheit mit ihm in die Welt gestellt werden wird, verrate ich heute noch nicht. Die bisher erschienenen Hefte, die alle etwas sagen, was so noch nie gesagt worden ist, und bei mir bestellt werden können, heißen:

  • a wie anfangen, wie Alphabet, wie allerlei
  • f wie Freewriting, wie fließen, wie fantastisch
  • o wie OuLiPo, wie optional, wie ohne
  • s wie Silbchen, wie siebzehn, wie sabi
  • u wie umbildern, wie Ur(sch)lamm, wie unkonventionell


23. Januar 2023

Kreatives Schreiben …

… wenn 828 Millionen hungern?

Laut UN-Bericht sind mehr als 10 Prozent der Erdbevölkerung mit Hunger konfrontiert, viele gar vom Hundertod bedroht. Was tue ich dagegen? Was kann ich tun? Darüber schreiben? Sich hineinschreiben? Sich davon wegschreiben? Etwas Entgegengesetztes schreiben? Etwas Schönes, Heiles schreiben? Täglich einen Leser:inbrief verfassen? Scham und Wut und Ohnmacht schreiben? Petitionen unterschreiben? Journalist:in werden? Gar nicht schreiben, sondern spenden und weinen? Sich anketten oder festkleben? Erstarren und schreien? Einer (linken) Partei beitreten? Ein Ehrenamt ausüben? Alles hinter sich lassen und sich einer Hilfsorganisation anschließen?
Ich stelle mir diese Fragen und sage Ja. Ja als Antwort auf alle. Alles schon gemacht – bis auf das letzte. Ich stelle mir die Fragen und weiß, dass es Luxusfragen sind. Dass ich extrem privilegiert bin. Ich bin nicht von Hunger, nicht von Bomben bedroht, bin so gut wie keiner Diskriminierung ausgesetzt. Und doch muss ich jeden Tag BESCHLIESSEN, meiner Arbeit nachzugehen – trotz oder wegen alledem? Obwohl ich gern so viel ändern würde und keinen überzeugenden Ansatzpunkt finde.
Ich mache dieses oder jenes kleine Bisschen und gehe einfach immer weiter meiner Arbeit nach. Erdenke Impulse für darüber, für hinein, für davon weg, für Entgegengesetztes, Schönes, Heiles, für Wut und Ohnmacht usw. Und sage, dass wir die Verantwortung tragen: für Ausbeutung, Hunger, Klimawandel. Mehr ist es nicht. Manchmal schäme ich mich. Manchmal denke ich: Wenn alle wenigstens so wie ich … Dann wieder Ohnmacht. Usw. Und du?


16. Januar 2023

Glitzern und Alltag

Nachhaltigkeit der Erfahrungen

Klar, so eine dreitägige Schreibwerkstatt auf einer mittelalterlichen Burg oder gar eine sechstägige auf einer Nordseeinsel – das sind glitzernde Perlen in der Jahreskette. Von denen man zehrt. Es entstehen wunderbare Texte, es werden Erkenntnisse geboren, berührende Begegnungen finden statt in literarischer Geselligkeit usw. Mir allerdings liegt eine Sache besonders am Herzen: Nachhaltigkeit der gemachten Erfahrungen. Etwas davon, was so geglitzert hat in diesen Tagen, sollte in den Alltag zuhause integriert werden können. So möchte ich hier einige Ideen, wie das gelingen kann, ausführen – auf das Element Schreiben bezogen.

  • Idee 1: Such dir eine Schreibgruppe. Literarische Geselligkeit, das gemeinsame Schreiben, das Vorlesen in der Gruppe, das Gespräch über Texte und Schreiben ist durch nichts zu ersetzen!
  • Idee 2: Setz dir ein paar Zeiten in der Woche, in denen du nichts Anderes tust als zu schreiben. Es können die 15 Minuten jeden Morgen sein, bevor alle Anderen im Haus erwachen. Es können die beiden Stunden dienstags und freitags von 18 bis 19 Uhr sein. Wichtig ist: Nichts Anderes ist dann wichtig, und wenn nur drei Sätze entstehen oder ein winziges Elfchen – egal, nichts Anderes passiert in diesen Zeiten als Schreiben oder Aufdiewörterwarten.
  • Idee 3: Nutze die Zeiten in Bus und Bahn oder im Café, schreib Wörter, belausch die Menschen um dich herum, notier, was du hörst, siehst, riechst.
  • Idee 4: Falls du ein angefangenes Projekt weiterverfolgen möchtest, setz dir eine Wörterzahl, die du in der Woche daran schreiben willst, z. B. 300 oder 3000. Und wenn die am Sonntagnachmittag immer noch nicht geschrieben sind, musst du vielleicht den Tatort ,opfern‘.


7. Februar 2022

Das ganz andere Geschlecht

Mithu Sanyal zu Simone de Beauvoir

Ich weiß nicht, ob es gestattet ist, vielleicht ist es das nicht, aber ich erlaube mir, einen Text abzutippen, in Gänze, und damit meine Wertschätzung und Anerkennung zu zeigen. Einer Schriftstellerin und Essayistin zu zeigen, die bekannt und stark angefeindet worden ist – politisch und von der Literaturkritik – für ihren Roman Identitti (Hanser Verlag 2021): Mithu Sanyal. Ich fand den Roman genial, allein deshalb, weil ich, sobald ich dachte, jetzt habe ich es, wieder aus meiner gedanklichen Identitäts-Sicherheit herausgeschleudert wurde. Und dann hat sich also Mithu Sanyal in der ZEIT (1. 12. 2021) zu einer meiner allzeit liebsten und wertgeschätzten Schriftstellerinnen und Essayistinnen Simone de Beauvor geäußert. Hier kommt der Text.

Das ganz andere Geschlecht
Simone de Beauvoir hat auch der Gendertheorie den Weg bereitet. Aber was würde sie heute zu Transgender sagen?

Alles hängt an diesem einen Satz: „Man wird nicht als Frau geboren, man wird es.“ Um zu verstehen, warum die Interpretation dieser neun Wörter so entscheidend ist, muss man sich daran erinnern, dass die Frauenbewegung der 1970er- und 1980er-Jahre untrennbar mit Simone de Beauvoir verbunden war. Zumindest im Westen. Im Osten las man Alexandra Kollontai und Clara Zetkin. Doch in der Vorwiedervereinigungs-Bundesrepublik wollten wir Simone nicht nur lesen, sondern leben. Ich kann mich an endlose unproduktive Stunden erinnern, in denen ich versuchte, beauvoirstyle in Cafés zu schreiben. Und erst die freie Liebe!
Aber hier geht es nicht um Sex, sondern um … sex, also um Geschlecht wie in Das andere Geschlecht. Beauvoirs Bestseller war Auslöser und Theorie der zweiten Welle der Frauenbewegung in einem. Wenn Simone de Beauvoir also sagen würde, dass trans okay ist, dann ist trans okay. Aber sagt sie das?
Beauvoirs Satz – damals noch in der früheren Übersetzung, „man wird zur Frau gemacht“ – war die Grundlage dafür, dass Geschlecht ausdifferenziert wurde in biologisches Geschlecht, sex, und soziales Geschlecht, gender, in das die Gesellschaft uns mit pinken Kleidern und Geschlechterstereotypen hineindrängt. Dann kam die Philosophin und Gendertheoretikerin Judith Butler und sagte, dass auch dieser Rest sex nicht biologisch sei und es keine Natur vor der Kultur gebe. Und die Feministinnen spalteten sich in zwei Lager, die sich beide durch Beauvoir legitimiert fühlen: die genderkritischen Feministinnen. Und die transinklusiven Queer-Feminist*innen.
Die Extremposition wird von Radikalfeministinnen wie Janice Raymond vertreten, für die Transsexualität eine Erfindung des Patriarchats ist, damit Beauvoirs Erkenntnisse zurückgenommen werden und wieder eine klare Geschlechterdichotomie etabliert ist: Man ist und bleibt, was man war und ist, also Mann oder Frau, Punkt. Doch auch weniger extreme genderkritische Feministinnen wenden ein: Wenn wir nicht mehr über Geschlecht – im Sinne von sex und nicht nur gender – sprechen können, wie können wir dann über Geschlechterdiskriminierung (sex-based oppression) sprechen?
Dagegen halten Queer-Feminist*innen die Tatsache, dass die Definition von Geschlecht selbst keineswegs konstant ist. Sie ändert sich radikal, wenn wir in die Geschichte blicken, und erst recht, sobald race ins Spiel kommt. Man muss nur an die Rede der schwarzen Bürgerrechtlerin Sojourner Truth denken: „Ain’t I a Woman?“ – „Bin ich etwa keine Frau?“ Als Truth diese Frage 1851 stellte, lautete die Antwort schlicht: Nein. Schwarze Frauen waren aus der Definition von Weiblichkeit ausgenommen.
Es gibt keine Erfahrung, die alle Frauen zu allen Zeiten überall teilen. Nicht einmal meine beste Freundin und ich erleben unser Frausein in derselben Form. Wenn Judith Butler also sagt, dass Geschlecht eine Performance ist, heißt das nicht, dass wir diese Performance frei wählen können, sondern nur, dass die Existenz der Essenz vorausgeht. Und das ist die Definition des Existenzialismus. Judith Butler ist nicht ohne Simone de Beauvoir zu denken. Aber ist Beauvoir ohne Butler zu denken? Denn Transgender ist ja auch für Feministinnen, die gerade nicht an eine weibliche Essenz glauben, ein Problem. Da hat man sich so viel Mühe gegeben, die Bedeutung von Geschlecht zu dekonstruieren – Sei einfach du selbst, egal welches Geschlecht du hast –, und dann kommen Transmenschen und sagen: Mein Geschlecht ist aber verdammt wichtig für mich, und ich kann nur ich selbst sein, wenn ich auch mein Geschlecht sein kann, und deshalb will ich, dass mein Geschlecht auch rechtlich anerkannt wird!
Fragt sich doch nur: Warum können wir das Konzept von Geschlecht nicht endlich auf den Müllhaufen der Geschichte schmeißen, und gut ist?
Dabei muss ich immer an den Genossen denken, der mir einmal erklärt hat, er sei dagegen, den Gender-Pay-Gap abzuschaffen, wir müssten doch besser das Geld abschaffen. Vielleicht ist Geschlecht ein wenig wie Geld. Wir mögen es falsch finden, aber es existiert in der Welt. Denn auch, wenn Geschlecht nur ein Konzept ist, ist es doch ein Konzept, das eine zentrale Bedeutung für uns hat. Eine so zentrale Bedeutung, dass wir ins einen Menschen nicht ohne Geschlecht vorstellen können. Wir nehmen Menschen erst wahr, wenn wir sie als Männer oder Frauen oder Inter oder Trans wahrnehmen.
Nun hat Simone de Beauvoir in ihren Texten zwar nicht über Trans geschrieben, weil es den Begriff damals noch nicht gab. Aber sie hat über Transzendenz geschrieben. Für Beauvoir bedeutet Transzendenz, in die Zukunft zu greifen, um Projekte zu verfolgen, die unsere Freiheit vergrößern. Das, was Frauen von Transzendenz abhält, ist das naturalisierende Konzept des „Ewigweiblichen“, das sie in einem Zustand von Immanenz hält.
Beauvoir hielt das Ewigweibliche für eine Lüge: diese männliche Fantasie von der mütterlichen inspirierenden schönen Natur aller Frauen. Frauen aber, die sich dem Konzept des „Ewigweiblichen“ entziehen, wird vorgeworfen, keine „echten Frauen“ zu sein. Ich bin davon überzeugt, dass Beauvoir heute schreiben würde: Transfrauen wird vorgeworfen, keine „echten Frauen“ zu sein, weil sie sich dem Konzept des „Ewigweiblichen“ entziehen.
Wir werden nicht als ein Geschlecht geboren, wir werden dazu, und manchmal müssen wir uns selbst dazu machen.


17. Januar 2022

Das Schöne und das Biestige

Warum Ästhetik nicht immer hilft

Zu Weihnachten bekam ich zwei Bücher geschenkt, über die ich mich (zuerst) sehr freute, dachte ich doch: Klasse, endlich mal nicht irgendeinen Roman, den ich entweder schon kenne oder den ich sowieso nicht lesen werde. Sondern Bücher zum Thema Schreiben, die ich noch nicht kannte, von zudem von mir sehr geschätzten Autorinnen und in haptisch und optisch sehr ansprechende Aufmachung. Hach!
Ich bekam von Doris Dörrie Einladung zum Schreiben (Diogenes 2021), feines handliches Format, gebunden in rotem Leinen. Ich bekam von Silke Heimes ich schreibe mich gesund (dtv 2021), besonderes Zwischenformat mit in Gold geprägtem Titel. Ich strich über die Einbände – wie ich mich immer freue, wenn ich etwas Neues in Sachen (Kreatives) Schreiben in den Händen halte! Und ich schlug das erste auf, und ich schlug das zweite auf – und sank enttäuscht ins Sofaeck. Dutzende Seiten, auf denen ausschließlich Linien bzw. die modernen quadratisch angeordneten Pünkelchen zu sehen sind. Dazwischen kurze Textchen, Schreibimpulse.
Ich wusste sofort, dass ich niemals etwas in diese Bücher hineinschreiben würde. Ich wusste aber auch sofort, dass ich sie niemandem weiterschenken würde. Denn ich weiß aus Erfahrung, dass sie leer bleiben. Auch wenn der eine Titel mit dem Wort Einladung lockt und der andere mit dem Versprechen, sich gesund schreiben zu können (dazu könnte jetzt auch viel Kritisches angemerkt werden) – solche Bücher werden nicht zum Schreiben benutzt. Jedenfalls nicht zum Hineinschreiben. Das hat m. E. folgenden Grund:
Überall werden wunderschöne Kladden, Hefte, Papiere angeboten, die zum Schreiben einladen sollen. Das tun sie … auch. Vor allem aber halten sie sehr viele Menschen vom Schreiben ab. Da funkeln Pailletten auf dem leinenen Einband, da ist dieses schöne glatte (oder gar handgeschöpfte) Papier, da sind die vielen leeren Seiten … In solch ein kostbares Ding dürfen nur gewichtige Worte, kluge Sätze, auf ewig gültige Botschaften – das sagte mein innerer Zensor, als ich 13 war und ein quadratisches, in rotes Leder eingebundenes Tagebuch mit Schloss und mit sehr glatten, für Schönschrift mit Füller bestens geeigneten Seiten mit abgerundeten Ecken geschenkt bekommen hatte und meine ersten Tagebuchversuche machte. Und ich gab nach drei Tagen das Schreiben, das nicht direkt schulisch geforderte (Aufsätze) oder elterlich animierte (Reisetagebuch) oder kommunikative (Briefe an Oma und Opa) oder journalistische (Artikel für Alternativzeitungen) Schreiben für lange Jahre wieder auf. Als ich mit Anfang 30 wieder anfing, griff ich zum Schmierpapier (Fehldrucke, Makulatur etc.) – und schrieb schnell, strich aus, schrieb drüber und drunter und machte Sternchen und strich noch mehr und war beseelt wie nie bei irgendeiner Tätigkeit je.
Selbstverständlich sollte das Papier glatt sein und den Stift nicht am Fließen hindern. Auch kann es Spaß machen und hilfreich sein, mit dem Format zu experimentieren, denn ein DIN A3-Blatt wirkt anders als ein post-it-großes Zettelchen.
Die (materielle) Umgebung ist wichtig, aber nicht entscheidend. Einen idealen Ort, eine ideale Zeit, ein ideales Schreibgerät, ein ideales Papier, die idealen Stimulanzien (Kaffee, Schokolade, Joint) gibt es niemals, wie es tatsächlich manche Schreibratgeber suggerieren – und auch die beiden Bücher von Dörrie und Heimes. Wichtig ist, dass etwas in Fluss kommt, dass etwas zu Papier kommt, dass nichts hemmt – schon gar nicht das Psychologische, das durch die Ästhetik eben in unguter Weise angestochen werden kann.

P.S. Zum Sinn der Schreibimpulse in den beiden Weihnachtsgeschenkbüchern habe ich mich hier bewusst nicht geäußert.


22. November 2021

Schattenseiten

Anmerkungen zur Freiberuflichkeit 1

Eigentlich hadere ich selten. Nun, ich hadere schon hin und wieder mit allem Möglichen (z. B. mit Wänden, gegen die ich anrenne), aber ich hadere selten mit meinem freiberuflichen Dasein. Seit ungefähr anderthalb Jahren hadere ich allerdings zunehmend öfter.
Ich weiß gar nicht, ob hier die richtige Stelle ist, aber jetzt habe ich beschlossen, dass sie es ist, um mein Hadern (oder Jammern oder Stöhnen) öffentlich zu machen. Um zu zeigen, welche Schattenseiten ein meistens doch so entzückendes freiberufliches Dasein haben kann.
Es sind fünf Kompaktkurse ausgefallen, von denen nur einer kompensiert werden konnte – aber bis alles geklärt war in Sachen Geld, hatte ich Dutzende Stunden insbesondere mit Kommunikation, aber auch mit Rückerstattungen verbracht, die mir keinE SekretärIn abnahm. Unbezahlte Arbeit zusätzlich zu mehreren tausend Euro, die ich nicht eingenommen habe.
Jetzt 2G – eigentlich bin ich damit einverstanden. Aber ich bin es so leid, immer wieder Neues kommunizieren und Diskussionen führen zu müssen, dazu gezwungen zu sein, auch weil Menschen sich so verhalten, wie sie sich eben seit Monaten massenhaft sagenhaft uninformiert und irre leichtsinnig und brutal egozentrisch verhalten. Zum Schluss für heute etwas auch Positives: Ich könnte jetzt Zoom-Fortbildungen anbieten.


4. Oktober 2021

Das 19. klingt!

Was Dichten mit Zitronenkuchen zu tun hat

„Wenn ich ein Pantun schreiben will, dann muss ich mir immer noch das Schema raussuchen, das Beispiel anschauen, die Zahlen vorne vor die Zeilen schreiben, also nach Schema F vorgehen, irgendwie nach Rezept, wie beim Kuchenbacken.“ Angelika P. schaut mich fragend oder Absolution erbittend oder Tipps erhoffend an.
Wir sitzen in der Schreibwerkstatt, als Hausanregung habe ich beim letzten Mal die Aufgabe mitgegeben, acht Zeilen herauszusuchen aus den an dem Tag geschriebenen Texten und daraus ein Pantun zu ,bauen‘. „Ja, so ist es, wenn ich erst dreimal ein Pantun geschrieben habe“, sage ich. „Es ist wie beim Kuchenbacken. Zuerst brauche ich ein Rezept.“
Wenn ich noch nie solch einen Zitronenkuchen gebacken habe, den es früher immer bei Oma gab und der immer, aber auch wirklich immer als perfekter Quader auf der Kuchenplatte lag und immer so schmeckte und solch eine perfekt weiche Konsistenz hatte wie erwartet. Als Oma gestorben war, kam Omas zerfleddertes Backbuch zu mir. Oma hat den Zitronenkuchen nie nach Rezept gebacken, und doch wurde er immer perfekt. Bei mir war es nicht so. Mal blieb die untere Schicht beim Stürzen in der Form kleben, obwohl der Kuchen doch oben schon fast verkohlt aussah, mal schmeckte er fad und war von staubtrockener, ein anderes Mal von selbst für mich von zu klitschiger Konsistenz. Usw. Obwohl ich jedes Mal genau nach Rezept vorging. Vielleicht liegt es an der Kuchenform, vielleicht am Mehl (Oma nahm sicherlich das vollkommen weiße), vielleicht am E-Herd (Oma kochte und buk mit Gas). Ich habe es nie herausgefunden, kann aber heute einen Zitronenkuchen backen, der weder zu klitschig noch zu fad ist – immer gleich perfekt ist er nicht, was auch daran liegt, dass ich immer das Mehl nehme, was gerade da ist, also auch mal eine Mischung aus Buchweizen-, Kartoffel- und Maismehl, manchmal Margarine statt Butter, manchmal mehr Zitronenabrieb, meistens keinen Zuckerguss. Usw. Perfekt – ich weiß nicht. Immer gleich perfekt – nein. Eine Zitronenkuchenvariante 57 – ja.
Das alles erzähle ich in der Schreibwerkstatt. Was hat das aber mit dem Schreiben eines Pantuns zu tun?
Wenn ich meine Inhalte, das, was ich in eine (literarische) Form bringen will, in eine Form bringen will, die ich noch nie ausprobiert habe, dann brauche ich ein Vorbild und ein Rezept. Vielleicht wird das erste Pantun klitschig, das zweite verbrennt mir, das dritte klingt fad, das vierte klingt gar nicht nach Pantun, sondern nach Rondell. Nach und nach aber kann ich die Zahlen vor den Zeilen weglassen, weiß einfach, dass sich die Zeilen 2 und 4 der Vorstrophe als Zeilen 1 und 3 in der nächsten wiederholen. Nach und nach fühlt sich das Arbeiten in der Form geschmeidiger, routinierter an, meine Worte, meine Inhalte und die Form schmiegen sich aneinander, beeinflussen sich gegenseitig, in gewisser Weise automatisch schreibe ich im Rhythmus, es gibt keine Ausreißer in der Zeilenlänge mehr … Und plötzlich klingt es, das 19. Pantun klingt! Ich kann es auch Menschen außerhalb der alles tolerierenden Schreibwerkstattfamilie servieren.


27. September 2021

„So hingekippt“

Wie Schreibwerkstatt wirken kann

„Ich bin hier immer so hingekippt, irgendwie aufgeschlagen …“ Simone R., seit einigen Jahren Mitglied der Frauenschreibwerkstatt, schilderte heute Morgen, wie es ihr jeden Montag um 9 Uhr geht, wenn sie von ihrem prall gefüllten Alltag mit Handwerkergeschäft, vier Kindern und Ehrenämtern für zwei Stunden eine Art Auszeit nimmt und schreibt. Einfach so. „Ich komme zuhause irgendwie gar nicht zum Denken, und ich schreibe wenig bis gar nicht, muss mich immer erst hierherschreiben – wer war ich noch mal?“ Und dann fließen, auch schon vor der Antwort (oder ohne eine solche) auf diese Frage, wer sie denn eigentlich sei, die wundervollsten bilderreichen Sätze aufs Papier, die von umkreisenden Suchbewegungen genauso zeugen wie vom Mäandern durch fantastische Welten oder noch von ganz Anderem … „So ist Schreibwerkstatt“, habe ich gesagt, zu Simone und den anderen Frauen, die heute am Tisch in meiner Werkstatt saßen. „Wir richten, aus dem Alltag kommend, den Blick im Schreiben nach innen, halten schreibend inne und staunen, was sich uns zeigt. Zwei Stunden für sich selbst – und alle Texte selbstbedeutsam, von was sie auch immer handeln.“


3. Mai 2021

Passung …

… und Selbstverantwortung in Schreibkursen

Eine Kollegin, Christine Kämmer, postete nach einem Massenworkshop bei der auch von mir sehr verehrten Schreiblehrerin Natalie Goldberg ihr Unbehagen auf dem Blog jungle writing.
Zusammengefasst: 2000 Menschen wurden von Natalie Goldberg dazu animiert, schreibend an tiefe Gefühlsschichten zu gehen, um dann in ständig wechselnden Kleingruppen die Texte vorzulesen.
Sie forderte KollegInnen dazu auf, ihren Post zu kommentieren – was ich tat. Hier mein Kommentar:
Auch von mir ein Danke an dich, Christine Kämmer, dass du uns teilhaben lässt. Jenseits dessen, dass ich wahrscheinlich mit der Art, wie ich Kreatives Schreiben unterrichte, näher am Konzept von Natalie Goldberg bin als du: Was mich dein Erfahrungsbericht lehrt, ist erstens, dass es notwendig ist zu fragen, ob Inhalte und Verfahren und Gruppe zueinander PASSEN, und zweitens zu kommunizieren, wie ich (Kreatives) Schreiben in diesem spezifischen Setting verstehe, damit alle Menschen, die teilnehmen, entscheiden können, ob sie im für sie PASSENDEN Kurs sind. Es liegt in meiner Verantwortung als Kursleiterin, meine Haltung und das zu Erwartende zu kommunizieren – es kann nicht in meiner Verantwortung liegen (vor allem nicht in einem mit solchen Massen konzipierten Kurs), Menschen (vor sich selbst) zu schützen. Es grüßt herzlich Kirsten Alers (Schreibpädagogin, wortwechsel-kaufungen.de)


26. April 2021

Gendern

Thesen zu */_:innen & X – Teil 2

Auch wenn heute Tschernobyl-Tag ist – kurz zögerte ich, ob das nicht doch heute hier zu einer Schreibanregung werden sollte … ich erinnerte mich, wie wir uns damals verhielten, was wir nicht aßen, wo wir uns nicht aufhielten … ein bisschen fast wie heute – und auch ganz anders …

  • Sprache scheint nur in Stein gemeißelt, sie hat sich entwickelt, sie wandelt sich täglich, sie wird sich immer verändern – Sprache muss ein dynamisches Gebilde sein. Begriffe, Wahrnehmungen und gesellschaftlicher Wandel stehen in dialektischem Verhältnis zueinander.
  • Es ist tatsächlich doch lustvoll, genau hinzuschauen und genau zu benennen – wenn auch nicht immer unanstrengend, sich irritieren zu lassen, sich in der ach so heimeligen So-war-es-doch-schon-immer-Einfriedung stören zu lassen.
  • Texte, in denen differenziert gegendert wird, können Komplexes differenziert abbilden – starre Begriffshülsen sind nicht sinnvoller als begriffliche Vielfalt.
  • Meine Sprache verrät, was ich sehe und/oder annonciere – und welche Bilder in den Köpfen Anderer ich erzeugen will. Wenn ich eine inkludierende Sprache in meinem Alltag und in meinen Veröffentlichungen verwende, erzeuge ich andere Bilder, als wenn ich an einer tatsächlich ja exkludierenden Sprache festhalte – die die exkludierenden Verhältnisse (hoffentlich doch) vergangener Zeiten spiegelt. Ich kann also durch winzige Verschiebungen zur Etablierung neuer Bilder, neuer mentaler Modellebeitragen – ist das nicht wunderbar?!
  • Die Schönheit der (deutschen) Sprache bzw. deren Bedrohung wird immer wieder ins Feld geführt (bei manchen noch gepaart mit dem befürchteten Untergang des Abendlandes). Wer bestimmt denn, was schön ist an der Sprache? Ich finde Genauigkeit schön, eine zu Aussage, Kontext, Zeit und AdressatInnen passende Sprache!
  • Wenn Lesebarkeit und Ästhetik Kriterien sind, dann ,gewinnen‘ Doppelpunkt (Schreiber:innen), Großes I (SchreiberInnen) und großes X (SchreiberX) gegen Slash (Schreiber/innen), Genderstern (Schreiber*innen) und Unterstrich (Schreiber_innen), weil sie die Harmonie des Schriftbildes weniger stören. Wenn andere Kriterien im Vordergrund stehen, ,gewinnt‘ eine andere Variante.
  • Auch wird die Grammatik immer wieder angeführt als Gegenargument zum Gendern. Es ist richtig, dass das grammatische Geschlecht nicht mit dem biologischen gleichzusetzen ist; die Sonne ist in den romanischen Sprachen und vielen Mythologien männlich, der Mond weiblich. Dennoch fallen eben grammatisches und biologisches Geschlecht bei menschlichen Personen und Tieren zusammen. Warum sonst müssten sich sonst die Englisch sprechenden Menschen Hilfskonstruktionen ausdenken und male und female etwa vor cat setzen, wenn ganz genau gesagt werden soll, ob es sich um einen Kater oder eine Katze handelt?!
  • Wenn jemand sich nicht mitgemeint fühlt und jemand anderes aber diese Person mitzumeinen angibt – wer hat dann die größeren Rechte? Es wäre wünschenswert, wenn mehr gefragt würde: Mit welchem Namen möchtest du angesprochen werden?, kann ich das neunjährige Kind fragen, das im Körper eines Jungen geboren wurde, aber seit Jahren sagt, es sei sei ein Mädchen. Wie willst du in meinem Essay benannt werden?, kann ich X. fragen – geboren als Mädchen, operiert, als Mann lebend und in einer Liebesbeziehung zu einem Mann.
  • Es ist ein Unterschied, in welchem Kontext ich Sprache benutze: Im persönlich-privaten Umfeld gelten womöglich andere Konventionen als in öffentlichen Institutionen, in der Wissenschaft oder auf gesamtgesellschaftlicher Ebene. Ich reagiere unterschiedlich (humorvoll) darauf, ob mein Sohn oder die Volkshochschule nicht gendert; ich fordere von Studierenden gegenderte Arbeiten, aber nicht von meinen Eltern gegenderte Briefe (trotzdem diskutiere ich auch mit meinen Eltern oder sage ihnen, dass ich vor allem Studentinnen* und Schreibschülerinnens unterrichte).
  • Und dennoch – es ist ratsam, sich vor Doktinen aller Art fürchten und davor, Menschen zu verachten, zu ächten, die Begriffe wie non-binär noch nie gehört haben.


19. April 2021

Pinky

Rubrik: Was frau nicht braucht

Teil 2 meiner Genderthesen muss aus aktuellem Anlass auf kommende Woche verschoben werden. Unbedingt will ich die Aktion gegen ein Produkt unterstützen, das einzig überflüssiger frauenfeindlicher kapitalistischer und klimaschädlicher Geldmach-Schwachsinn ist (erfunden und promoted von Männern): pinkfarbene Einweghandschuhe zum Wechseln und Einwickeln von benutzten Tampons.
Die hiesige (nordhessische) nicht gerade feminismusverdächtige Tageszeitung Hessisch-Niedersächsische Allgemeine kommentierte am 17. 4. 2021: „Das kommt dabei heraus, wenn Männer über Frauen nachdenken. Pinkfarbene Wegwerfhandschuhe zum hygienischen Entfernen von Periodenprodukten und – das ist kein Witz – zur Enttabuisierung des Themas. Vier Jahre haben die ,Frauenversteher‘ André Rittersürden (33) und Eugen Raimkulow (32) an der Idee getüftelt, die sie in der TV-Show ,Höhle des Löwen‘ vorstellten. Ab in die Höhle, möchte man ihnen zurufen!“
Und hier der Link zum die Gegenargumente exzellent zusammenfassenden Kommentar des auf instagram aktiven Frauenduos its.me.ooia.


12. April 2021

Gendern

Thesen zu */_:innen & X – Teil 1

Tiefe Schichten, die Identität gar scheint angegriffen zu werden vom Gendersternchen. Es haben beispielsweise Menschen meinen Newsletter abbestellt, weil ich gendere. Die Debatte um die differenzierte Verwendung von Begriffen wird hochemotional geführt. Der Diskurs um die sich verändernde Sprache ist tatsächlich hochkomplex, nicht zuletzt eben weil er neben ästhetischen und linguistischen Aspekten (die oft auch als Todschlagargumente benutzt werden) auch psychologische sowie kultur- und gesellschaftspolitische Felder berührt.
Ich leiste hier keinen wissenschaftlichen Beitrag. Ich ergreife hier Partei. Für mich, die ich nicht gelten soll. Für Andere, die nicht gelten sollen. Gegen die, die sich als HüterInnen von etwas angeblich Gutem und vermeintlich Ewigem aufspielen. Ich versuche, selbstgerechtes Gebahren und sogar Hass, die mir entgegenschlagen, wenn ich gendere, nicht mit selbstgerechtem Gebahren oder gar Hass zu beantworten. Mein Ziel ist Empowerment und Überzeugung und nicht Aufrüstung. Wenn ich mich auf das Gendern beschränke, liegt das daran, dass ich mich biografisch bedingt im Themenfeld Sex & Gender besser auskenne als beispielsweise im Themenfeld Rassismus. Die Thesen lassen sich aber meines Erachtens übertragen.

Hier also meine Anmerkungen bzw. Thesen zum Gendern, Teil 1:

  • Arbeit an der Sprache ist Arbeit am Gedanken, ist Arbeit an Wahrnehmungen, ist Arbeit am produktiven Zweifel.
  • Immer wieder wird angeführt, dass es anstrengend ist, gegenderte Texte zu lesen. Für mich ist es anstrengend, weil wütend machend, Texte zu lesen, die im generischen Maskulinum geschrieben sind (Studenten) – ich fühle mich nicht mitgemeint, weder grammatisch noch inhaltlich. Texte, in denen das generische Femininum (Studentinnen) verwendet wird, lese ich deutlich entspannter – obwohl im generischen Femininum auch die genaue Differenzierung fehlt, steckt in den femininen Begriffen doch schon optisch mehr als in den maskulinen.
  • Es ist unsinnig, zum Beispiel in einem Text zu Cyber-Mobbing in der Schule, nicht differnziert zu benennen, ob es wirklich nur Schüler waren, die gemobbt wurden, oder auch Schülerinnen oder sogar vor allem sich als non-binär verstehende Jugendliche.
  • Es ist zumutbar, zumindest zwei Geschlechter zu nennen, das schaffen sogar konservative Politiker:innen öffentlich seit Jahren und seit einiger Zeit sogar Nachrichtensprecher:innen der öffentlich-rechtlichen Sender.
  • Neutrale Begriffe zu finden oder zu erfinden, schadet nicht – dass Studierende als Begriff grammatisch falsch sei, ist meines Erachtens ein Todschlagargument, das andere Interessen (Beibehaltung des Alten) verschleiert und Kreativität abgekanzelt.
  • Es ist zumutbar, sich der gesellschaftlichen Realtität zu stellen, dass es mehr als zwei Seinsweisen gibt, sowohl physisch/biologisch als auch psychisch als auch sozial-kulturell – tatsächlich schon, solange es Menschen gibt (siehe ethnologische und kulturanthropologische Forschungen).
  • Es ist unzulässig, Frauen sowie nicht-binäre Identitäten und Seinsweisen auszugrenzen – es ist notwendig, diskrimierungskritisch und diversitätssensibel zu sprechen und zu schreiben.
  • Nicht zulässig ist, mich zu beschimpfen, zu verhöhnen gar, ich würde mich anstellen, ich sei eine Emanze, ich verhunze die Sprache usw. – es sei denn, ich dürfte beschimpfend antworten, sie, die mich Angreifenden, würden sich angstvoll festkrallen an längst Überholtem, sie seien Ewig-Gestrige und würden diskrimieren, sie beschränkten die Sprache usw.
  • Ich gelte: als Frau, als Feministin, als Visionärin in Sachen non-binär.


23. November 2020

Bin ich eingeboren?

Das Unbehagen in den Begriffen

Durch die Protest- und Widerstandsbewegung BlackLivesMatter bin ich aufmerksamer geworden bezüglich all der Formen des Rassismus, die mir tagtäglich begegnen – bei anderen Menschen und bei mir. In den Kontexten, in denen ich mich bewege, habe ich es mit allen drei Ebenen des Rassismus zu tun, die in der Literatur unterschieden werden: Alltäglicher Rassismus begegnet mir in der Straßenbahn, den Schreibwerkstätten, Familiengesprächen, beim Sport; institutioneller Rassismus begegnet mir in den Strukturen und Curricula der Bildungsinstitutionen, in denen ich selbst unterrichte und mit denen ich über andere Menschen in Kontakt bin; und epistemischer Rassismus begegnet mir überall dort, wo ich lese und denke.
Ich äußere mich immer, wenn ich auf Rassismus in realen Begegnungen treffe. Auch wenn ich nicht weiß, ob die anderen Personen zuhören, verstehen, innehalten oder gar etwas ändern. Einfach nur, um etwas dagegen zu stellen. Eine andere Sicht auf die Dinge. „Man kann das auch anders sehen“, ist einer der Sätze, die ich seit Jahrzehnten in allen möglichen Kontexten benutze. Vielleicht einfach erst einmal nur, um zu stören, die vermeintlichen Gewissheiten, die Selbstverliebtheit, die Machtansprüche. Und auch, um überhaupt etwas mehr zu tun, als ab und zu zu spenden.
Aber jetzt, durch das im öffentlichen Raum wieder präsentere Thema in den USA und in Deutschland (existiert hat es ja immer), suche ich auch bewusster nach Begriffen. Denn ganz im Gegensatz zu vielen Menschen in meiner Umgebung halte ich eine korrekte Sprache für notwendig: Einerseits verändert sich ja nicht nur die Welt und in Folge die Sprache, sondern wir schauen auch anders auf die Welt, machen uns ein anderes Bild von ihr, je nachdem, ob wir – nur um ein Beispiel zu nennen – Nigger oder Afrodeutsche oder persons of colour sagen oder hören. Andererseits will ich auch wissen, wie die Menschen, die mit Rassismus konfrontiert sind, sich selbst bezeichnet haben möchten, denn auch ich möchte meine Selbstbezeichnung bestimmen können; so forderte ich schon vor Jahrzehnten, dass in meinem Abschlusszeugnis nicht stand – um auch hier ein Beispiel zu nennen: „… darf den Titel des Diplompädagogen tragen“ (leider steht es da immer noch so, in modernen Zeugnissen hoffentlich nicht mehr).
Nun habe ich mich also gefragt, wie ich mich denn nennen soll, wenn ich sagen möchte, dass und warum ich keine eigenen Rassismuserfahrungen habe. Den Begriff biodeutsch fand ich zuerst ganz witzig – dann erfuhr ich, dass er zwar vor vielen Jahren erstmalig von Cem Özdemir benutzt wurde, aber heutzutage von BiologistInnen und rechtslastigen Gruppierungen besetzt ist; zudem besagt der Begriff ja nun auch nicht, dass ich weiß bin. Da ich die Bezeichnung Deutsche ohne Migrationsgeschichte/-hintergrund zu umständlich finde, fragte ich meine Kollegin Nadja Damm (sie hat eine große Expertise bzgl. diskriminierungssensibler Sprache). Sie wies mich darauf hin, dass es ja auf den Kontext ankäme, in dem ich mich selbst bezeichne, welcher Begriff passt.
So also kann ich mich wohl manchmal einfach als weiße Deutsche, manchmal als Herkunftsdeutsche und ganz manchmal vielleicht gar als eingeborene (autochthone) Deutsche bezeichnen.


9. November 2020

Hybride Geselligkeit

im Lockdown light

Damit kein Verdacht aufkommt: Ich halte ein Eingreifen in Form von verordneten Maßnahmen (insbesondere im Hinblick auf die Krankenhauskapazitäten) für alternativlos, ich halte mich an alles, ich halte mich von Rechtsaußen und denen, die nicht querdenken, sondern nur querwollen, aber sowas von fern, ich halte mich – und ein paar Andere, die weniger privilegiert sind als ich. Aber …
Warum darf ein gut gefülltes Kreuzfahrtschiff auslaufen, aber kein Konzert stattfinden? Warum darf ich in alle Läden, seien sie auch noch so unübersichtlich und wuselig, aber nicht ins Museum, wo außer mir noch drei andere auf hunderten von Quadratmetern Kunst betrachten? Warum darf ich mich in eine überfüllte Straßenbahn quetschen, aber nicht Schreibwerkstatt machen in einem Raum, der von der vhs und von der Kommune als geeignet angesehen ist?
Ich war sauer, dass ich nicht in Präsenz weiterunterrichten darf, und noch saurer, als ich hörte, dass in Berlin vhs-Kurse laufen! Aber dann überkam mich (irgendwie ist es bei mir immer so, wie es sprichwörtlich heißt: Krise als Chance) ein kreativer Schub und ich entwickelte ein hybrides Schreibwerkstatt-Modell für meine drei Frauenschreibwerkstätten. Das funktioniert so:
Jeweils zwei der Teilnehmerinnen treffen sich privat bei einer der beiden; alle Paare treffen sich zur gewohnten Schreibwerkstattzeit; ich schicke per Mail die Übungen und Feedbackanregungen am Tag vorher an alle; und dann schreiben wir simultan z. B. Mittwochabend ab 19 Uhr. So lässt sich etwas besser, als wenn alle individuell die per Mail verschickten Übungen machen und sich dann in Paaren anrufen (so war das Verfahren im Frühjahr beim ersten Lockdown), die so sehr vermisste literarische Geselligkeit zumindest in der Light-Version genießen.
Und selbst für die Teilnehmerinnen, die in KiTas oder Schulen arbeiten und aus Solidarität lieber bei der Variante mit dem Telefonieren blieben, entsteht über das Wissen, dass die Gruppe gerade schreibt, ein Verbundenheitsgefühl. Wenn dann noch entstandene Texte mit der Gruppe per Mail geteilt werden …
Die erste Woche mit dem neuen hybriden Schreibwerkstatt-Modell war jedenfalls so schön für alle, dass es wohl das Modell für den November sein wird.


26. Oktober 2020

Preisträgerinnen

Frauen sichtbar machen

Dieses Jahr wurden zwei der im deutschsprachigen Raum bedeutendsten Literaturpreise und der Literaturnobelpreis an drei Schriftstellerinneny verliehen: Elke Erb erhielt den Büchner-Preis für ihr Lebenswerk, Anne Weber den Deutschen Buchpreis für Annette, ein Heldinnenepos und Louise Glück den Literaturnobelpreis.
Ganz genau weiß ich nicht, warum ich von keiner der drei, bevor sie nicht anlässlich der Preisverleihungen im Feuilleton erwähnt wurden, eine einzige Zeile gelesen hatte … Von der US-amerikanischen Lyrikerin Louise Glück kann man derzeit kein Buch auf Deutsch erwerben. Anne Webers Roman in epischen Versen über die französische Widerstandskämperin Anne Beaumanoir habe ich noch nicht gelesen. Einige Gedichte von der in der DDR bereits erfolgreichen Elke Erb fand ich im Netz.
Möglicherweise liegt es daran, wie Isabella Caldart in ihrem Essay Let’s talk about visibility, baby! in der Literaturzeitschrift allmende (Dezember 2019) schreibt: „Nicole Seifert, die mit ihrem femeinistischen Blog Nacht und Tag auf der Frankfurter Buchmesse mit dem Buchblog-Award ausgezeichnet wurde, kommentiet Anfang 2019 in einem Blogbeitrag: ,Dass im Deutschunbterricht mal ein Buch von einer Autorin gelesen wird, ist nach wie vor die Ausnahme.‘“ (S. 8).
Im Rowohlt-Verlag erschienen im Herbstprogramm 2019 23 Bücher, 20 von Autoren, zwei von Autorinnen, eins von einem Mann und einer Frau, so ist im gleichen Essay zu lesen. Und: Drei Viertel der Rezensionen in den Feuilletons bespechen Bücher von Autoren und zudem noch ausführlicher, zitiert Caldart eine Studie des Forschungsprojekts #frauenzählen.
Giulia Becker schreibt im gleichen Heft: „Ich nehme auf jeden Fall wahr, dass der Literatur von Männern anders begegnet wird als der von Frauen. Bücher von männlichen Autoren sind für alle da, Bücher von Autorinnen werden meist von Frauen gelesen. Das ist eine ganz seltsame Vorstellung, die bei vielen Männern vorherrscht, nämlich dass die Kunst von Frauen sie nicht betrifft“ (S. 39).
Um so schöner, dass die Jurys der o. g. Preise Werke von Schriftstellerinnen ausgezeichnet und so sie und ihre Werke ins Bewusstsein gerückt, schtbar gemacht haben.
Und übrigens lohnt sich auch die Lektüre der 104. Ausgabe der Literaturzeitschrift allmende (die jetzt schon im 40. Jahr erscheint, ISBN 978-3-96311-270-6)) mit dem Titel „Neuer Feminsimus?“, in der sich 14 Autorinnen (u. a. Lena Gorelik, Annekathrin Kohout und Marlene Stark) literarisch-poetisch oder essayistisch den Fragen nach ihrer Positionierung als schreibende Frauen und im Feminsmus stellen.


14. September 2020

Was ist Frauenliteratur?

Wie Gattungsnamen zu betrachten sein könnten

Es gibt Spezialliteraturen bzw. es gibt Bezeichnungen, die bestimmten Veröffentlichungen einen bestimmten Stempel aufdrücken, was aus ganz unterschiedlichen Interessen heraus geschehen kann. Eine Zeitlang hatte ich keine Probleme mit beispielsweise der Bezeichnung Frauen- und Lesbenliteratur, irgendwann aber schien sie mir merk- oder gar fragwürdig.
Meines Erachtens sind Bezeichnungen für Spezialliteraturen zum einen historisch und vom Kulturkreis geprägt. Zum anderen kann man vielleicht mit Hilfe der folgenden drei Perspektiven/Fragen herausfinden, ob eine Bezeichnung gerechtfertigt ist. Und wenn ja: unter welchen Umständen.

  1. Das begriffliche Herausstellen diskriminiert, weil es das Anderssein, das Nicht-Norm-Sein betont. Warum wird also etwa die belletristische Literatur von Simone de Beauvoir als Frauen- und die von Jean Paul Sartre nicht als Männerliteratur bezeichnet.
  2. Das begriffliche Herausstellen kann wichtig sein, um Öffentlichkeit genau für diese AutorInnen oder für diese Art der Literatur herzustellen (das ist der Ansatz in meinem letzten Blogeintrag), um zu zeigen, dass es mehr gibt als die vermeintliche Norm. Wer kannte schon in den 1970er Jahren den großartigen utopischen Roman Frau am Abgrund der Zeit von Marge Piercy, als alle Ökotopia von Ernest Callenbach lasen?
  3. Und der Inhalt ist auch zu betrachten: Geht es in der Geschichte um die Lage von Frauen oder Lesben (um bei diesem Beispiel zu bleiben) oder nicht? Wird explizit und parteiisch deren Blickwinkel eingenommen? So sehr Ulla Hahn in Das verborgene Wort (siehe Blogeintrag vom 7. September 2020) die Perspektive der Frauen in der deutschen Nachkriegszeit einnimmt, so wenig tut das Agota Kristof in Das große Heft.


24. August 2020

Selbstbefragung

Warum mache ich das hier

„,Wir schlagen unseren Faden in ein Netz der Beziehungen. Was daraus wird, wissen wir nie.‘ Diese Metapher, die Hannah Arendt 1964 in einem Fernsehinterview mit Günter Gaus verwendet, um ihr politisches Denken und Handeln zu beschreiben, lässt sich gut auf das feministische Bloggen übertragen, finde ich.“ Das schreibt auf der Startseite ihres Blogs meine Kollegin Nadja Damm, die sich seit einiger Zeit intensiv mit dem Thema Feministisch Bloggen auseinandersetzt (Link siehe unten). Als ich den Satz von Hannah Arendt las, dachte ich zuerst an meine kleine Fahrradtour, die ich mit Lukas, Nora und Nina am 2. August machte: Ein langes Stück des Rundweges um den Maschsee in Hannover heißt Hanna-Arendt-Weg. Dann dachte ich: Ja, genau, ich weiß es nicht, aber ich vertraue darauf, dass jedes Wort Wirkung haben kann, immer schon. Und dann fragte ich mich: Warum mache ich das denn genau, das hier, jede Woche?
Jeden Sonntag (manchmal auch erst Montagmorgen) befrage ich mich, welche Notiz aus der Provinz des Kreativen Schreibens ich gern ins Netz stellen möchte. Diese Selbstbefragung ist eine Suchbewegung in zwei Richtungen. Die eine geht nach innen, die andere nach außen.
Indem ich mir die Frage stelle, richte ich meinen Geist aus. Ich befrage mich, woran ich gerade arbeite oder denke, was ich im schreibenden Suchen, ja, im mäandernden Schreinbhandeln umkreisen möchte. Ich schreibe dann, ohne mich in Sachen Textsorte, Sprachregister, Kohärenz etc. streng reglementieren zu müssen. In einer Art fokussiertes Freewriting suche ich voller Vertrauen auf den Reichtum der inneren Quelle, aus der sich mein Text speist, dem, was ich gelesen oder erkannt habe, und dem, was beim Schreiben passiert, Positionen, neue Facetten eines alten Themas, Fragmente … – in unterschiedlicher Sprache, mal persönlicher, mal wissenschaftlicher, wie es passt, zum Inhalt, zum Tag und mir.
Die zweite Richtung der Selbstbefragung hat mit dem öffentlichen Ort zu tun, an dem ich mich befinde. Ich frage natürlich auch immer, an was ich warum und wie die (Welt-)Öffentlichkeit teilhaben lassen will oder sollte. Und da ich Schreiblehrerin bin und vermute, dass in erster Linie Menschen auf meinen Blog stoßen und diesen dann auch immer mal wieder aufsuchen und nutzen, die sich für das (Kreative) Schreiben interessieren, habe ich genau diese Menschen vorrangig vor Augen, wenn ich hier so vor mich hin freewrite …
Dass ich ,nebenbei‘ auch noch linke Feministin bin, verheimliche ich nicht – ganz im Gegenteil, diese Tatsache hat großen Einfluss auf Inhalte und Sprache meiner Posts. Wer explizit etwas über feministische BloggerInnen wissen und Posts von ihnen lesen will, kann sich einen Überblick verschaffen auf dem Blog meiner Kollegin Nadja Damm.


15. Juni 2020

Aus aktuellem Anlass

Und weil niemand frei ist von Rassismus

BLACK LIVES MATTER
Wenn du einen Eindruck vom alltäglichen und strukturellen Rassismus in Deutschland bekommen willst: Ich empfehle den ,Brennpunkt‘ von Karoline Kebekus (er dauert 12 Minuten).

Und wenn weiteres Interesse besteht, sich mit Erfahrungen, Haltungen und Positionen auseinanderzusetzen, hier ein paar Literaturtipps:

  • Stefanie-Lahya Aukongo: Buchstabengefühle. Eine poetische Einmischung. w_orten & meer
  • Fatma Aydemir / Hengameh Yaghoobifarah (Hg.): Eure Heimat ist unser Alptraum. Ullstein
  • Nicol Ljubic (Hg.) Schluss mit der Deutschenfeindlichkeit. Hoffmann und Campe
  • Tupoka Ogette: exit RACISM: rassismuskritisch denken lernen. Unrast


18. Mai 2020

Aus Entsetzen

und aktuellem Anlass

Es gibt kein Grundrecht auf „Ich will“!


20. April 2020

Mal was zum Thema C

Weil ich so wütend bin

„Corona-Verbote verletzen unsere Grundrechte!“ Die heutige Schlagzeile der BILD-Zeitung, die ich heute früh im Vorüberradeln las, hat mich wütend in die Pedale treten lassen, damit ich schnell dieses hier schreiben kann.
Diese Aussage ist erstens in ihrer Pauschalität falsch und zweitens üble, Menschen gefährdende Propaganda!
Ja, einige Grundrechte sind derzeit zumindest beschnitten, aber weder alle noch grundlos. Es ist richtig, Versammlungen zu verbieten, weil sonst möglicherweise in den Krankenhäusern bzw. mit den schwerkranken Menschen das passiert, was in Italien passiert ist – da ist das eine Grundrecht auf Versammlung mit dem anderen Grundrecht auf Unversehrtheit vermittelt worden, und in dieser Entscheidung, Versammlungen zu verbieten, ,gewinnt‘ berechtigterweise das andere Grundrecht, das auf Unversehrtheit.
Es gibt in Deutschland viele Millionen Menschen, die gefährdet sind, schwer zu erkranken, und dann auf die entsprechenden Maßnahmen angewiesen wären. Es geht nicht nur um die Menschen in Pflegeheimen, es geht um Menschen mit Behinderungen, um Menschen mit Autoimmunerkrankungen, um Menschen mit Krebserkrankungen. All diese Menschen müssen gehört, ihre Interessen einbezogen werden in Entscheidungen. Und dann müssen diese Interessen vermittelt werden mit denen der Menschen, die andere haben: Zum Beispiel brauchen viele Menschen Beistand, ob psychologischen oder seelsorgerischen oder einfach den von Angehörigen – auch diese Interessen müssen gelten und Möglichkeiten geschaffen werden, wie sie ihn bekommen, z. B. indem in Gotteshäusern Plätze, auf denen man sitzen darf, gekennzeichnet werden. Aber weil das bisher nicht passiert ist, darf hier auch nicht, wie es einige Kirchenmänner sagen, von der Bescheniodung des Grundrechts auf freie Religionsausübung gesprochen werden – das ist genauso falsch und populistisch wie die Schlagzeile der BILD.
Rechte, auch Grundrechte sind weder einfach da und brachial jederzeit auslebbar – noch sind sie (und das ist mir fast wichtiger zu betonen) zu denken als Rechte, die ich als INDIVIDUUM einfach habe und einklagen kann. „Die Freiheit ist immer die Freiheit des anders Denkenden“, sagte einst Rosa Luxemburg. Und genau darin liegt die größte Herausforderung einer Gesellschaft: Wenn niemand sich das Recht auf Freiheit ohne Rücksicht auf Andere herausnehmen darf, dann müssen wir sprechen: über unsere Bedürfnisse und Interessen und wie sie miteinander in Einklang gebracht werden können auf Grundlage einiger nicht infrage zu stellender Prämissen, allen voran der Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.“
Und dann kann man auch nicht fordern, endlich wieder shoppen gehen zu können, weil sonst die Grundrechte echt viel zu lange und so weiter …

Falls noch Interesse besteht an interessanten Perspektiven, hier zwei Links:
Daheim ist es nicht am schönsten. Frauen in patriarchalen Systemen.
Ein rissiger Mantel der Fürsorglichkeit. Corona als „Seniorenseuche“.


30. März 2020

Abwarten und Tee trinken …

… und auch mal von der Rolle sein

So mancher Spruch wird in diesen Pandemie-Zeiten plötzlich wieder aktuell oder bekommt eine neue Färbung. Von der Rolle sind wohl einige, bei den teilweise ununterfüttert in die Welt gepusteten Nachrichten (manche unreflektierte Panikmache ist einfach vollkommen überflüssig, da kann man ruhig mal einen Beschwerdebrief an den Presserat schreiben!) ist es auch eine individuell und innerpsychisch täglich zu bewältigende Herausforderung, nicht in aufkommender Panik zu versinken. Abwarten und Tee trinken, ist da schon ein besserer Spruch und Rat. So entstehen neue Sprüche, die auch dazu dienen, auf dem Teppich zu bleiben (ha!): Hefe ist das neue Klopapier.
Und dann werde ich auf Zitate gestoßen von großen weisen DenkerInnen vor unserer Jetztzeit: Blaise Pascal, ein französischer Mathematiker, Physiker und Philosoph, der von 1623 bis 1662 lebte, schrieb: „Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen.“ Das ist doch mal eine Aufforderung! Xavier de Maistre verbrachte 42 Tage in nur einem Raum und schrieb anschließend Die Reise um mein Zimmer; das war 1790! Das Buch endet mit folgenden Sätzen: „Dachten sie wirklich, sie würden mich damit bestrafen, dass sie mich in mein Zimmer verbannten. Ebenso gut könnte man eine Maus in einen Kornspeicher stecken.“
Und dann, während des vergleichsweise recht komfortablen Eingesperrtseins, das die meisten von uns in diesem Lande gerade aushalten, genießen oder beides, kann man dann auch noch mal an diejenigen denken, die derzeit überhaupt kein Problem mehr zu haben scheinen, ja geradezu gar nicht mehr zu existieren scheinen: die Millionen Flüchtlinge, die Verhungernden und die von der Hass- und Rassismus-Pandemie Betroffenen!
Wenn das Zuhausebleiben dann noch zu gesteigerter Schreiblust führt – mein neuer Newsletter kann auf der Website heruntergeladen werden. Besonders bitte ich das virtuelle Trotz-C-Schreib-Vergnügen zu beachten.


23. März 2020

Zum Tage

Lachen ist gesund

Wenn Andere mit Klopapierrollen jonglieren oder kicken, weil sie eben SportlerInnen sind, muss ich mir doch, so dachte ich, etwas als Schreiberin ausdenken. War gar nicht so schwer. Ein paar Wörter aneinanderkleben, ein bisschen Rolle abwickeln, schreiben … Und fertig war die Coronapandemieerleichterungsnachbarschaftssolidaritätsdauerleihgabe. Ich hoffe, du lachst jetzt, Schmunzeln ist das Mindeste!


17. Februar 2020

Sei doch mal kreativ!

Üben ist auch eine Option

In letzter Zeit werde ich (wieder) verstärkt von SchreibwerkstattteilnehmerInnen mit dem Wunsch konfrontiert, spontan zu schreiben, textlich kreativer zu werden, leichter in Gang zu kommen, frei zu sein für alles und jedes – und stattdessen die Erfahrung zu machen, die hinter folgendem Bild steht: Denk nicht an einen rosa Elefanten! Nehmen sie sich vor, spontaner, kreativer, flüssiger und freier zu schreiben, desto verkrampfter, kopierender, blockierter und angeketteter scheinen sie zu werden oder sich zu fühlen.
Dann erfolgt die (meist jammerige) Diagnose: Irgendetwas im Leben muss sich erst ändern, damit … Ich war schon als Kind nicht kreativ, also … Die Schreiblehrerin müsste andere Impulse geben, dann … Die Schreiblehrerin lächelt. Und sagt: Üben ist auch eine Option.
Vielleicht waren wir mal als Säuglinge spontan. Vielleicht waren wir als Kindergartenkinder im Fluss. Vielleicht. Jetzt aber sind wir erwachsen. Wir haben die Schule hinter uns. Wir haben uns mit Regeln auseinandergesetzt, auch mit Schreibregeln. Wir haben Muster entwickelt, auch Schreibmuster, die uns helfen zu handeln. Wir können ja schreiben, auch auf Kommando sozusagen, alles Mögliche fließt uns locker aus der Hand: Einkaufszettel, Whatsapp-Nachrichten, Antworten auf Mails usw. Das ist gut so. Dass wir dabei Konventionen beachten, z. B. dass private Whatsapp-Nachrichten andere Wörter erlauben als berufliche Mails, das merken wir meistens gar nicht, wir haben die Muster gelernt, viele Jahre angewendetund dabei (unmerklich) geübt und schütteln sie nun einfach aus dem Handgelenk. Das ist gut so.
Genauso verhält es sich mit anderen Arten des Schreibens. Dem Bewusstseinsstrom zu folgen, haben wir nicht jahrelang geübt, erst recht nicht, den inneren Bildern sprachlichen Ausdruck zu verleihen. Wir sind nicht geübt darin, den Zensor beim Schreiben auszuschalten, also keiner Regel, keinem Muster zu folgen. Und dann merken wir beim Schreiben, dass es nicht klappt: spontan, kreativ, flüssig und frei zu schreiben. Und sind gefrustet, sprechen oben genannte Sätze oder lassen es sein, das Schreiben.
Dabei ist es einfach so, dass jede Art zu schreiben geübt sein will. Auch die spontane usw.
Wenn einmal etwas gelingt, wenn einmal spontan etwas aus der Feder geflossen ist, ist es hilfreich, sich klar zu machen, was dazu verholfen hat, um diese Hilfen beim nächsten Mal bewusst inszenieren zu können. Ein paar Techniken gibt es auch, die dazu verhelfen, erst einmal diese erste Erfahrung machen zu können. Da sind z. B. das Listenschreiben, das Schnellschreiben und das Blindschreiben zu nennen. Und dann gibt es keine Alternative zum Üben, zum täglichen Schreiben also. Wenn man es wirklich will.


8. Juli 2019

Felicitas Hoppe

Poetikvorlesung der Grimm-Professorin 2019

Hier folgt keine Zusammenfassung der Poetikvorlesung der diesjährigen Grimm-Poetikprofessorin des Instituts für Germanistik an der Uni Kassel. „Märchenhaft realistisch: Sechse kommen durch die Welt“ – so der Titel der Vorlesung. Ihr Lieblingsmärchen sei dieses Märchen aus der Sammlung der Brüder Grimm, sagte Felicitas Hoppe. Ich muss gestehen, dass ich es nicht hätte erzählen können. Macht nichts. Es ging vielleicht auch gar nicht um Märchen (weder im Film Felicitas Hoppe sagt, noch in der Vorlesung, noch in der Einleitung durch Prof. Dr. Stefanie Kreuzer) – um was es ging, könnte ich nicht auf einen Begriff bringen (muss ich ja auch nicht), also ein paar Gedankensplitter:

  • 1. Gedanke während des Zuhörens im Hörsaal II im Campus Center: Sich, um Kunst zu machen, einzunisten in einsamen Räumen (als „einsiedelnde Aussiedlerin“), ist nicht mit einer Auszeit zu verwechseln. Während der stundenlangen einsamen Tätigkeit werden zwischen Innenwelt und Außenwelt „produktive Schnittmengen“ gebildet. Nicht um den Rückzug oder Eskapismus geht es, sondern darum, sich in einem „anderen Raum der Reflexion zu bewegen“. Kunstmachen ist eine spezifische Daseinsform – und dafür muss man sich nicht rechtfertigen.
  • 2. Gedanke: Felicitas Hoppe will der Welt formgebend begegnen. Dabei sieht sie sich einerseits dem Spielerischen verpflichtet, andererseits geht es ihr nicht um ein Abbild, sondern auch immer wieder um eine erzählende Umerfindung der Welt, mit der es so schwer ist zurecht zu kommen – ohne diese Umerfindung (jeder Mensch tue das) komme man wohl kaum morgens aus dem Bett.
  • 3. Gedanke: Vielleicht am meisten hat mich der folgende Satz beeindruckt: „Ich habe versucht, meinen Verkehr mit der Welt ernst zu nehmen [...], mit diesem Kommunikationsangebot zu arbeiten.“ Gemeint ist, mit dem, was z. B. KritikerInnen oder die Wissenschaft über Hoppe schreibt, wieder zu nutzen, spielerisch für den nächsten Text zu nutzen.
  • 4. Gedanke: Spannend für meine schreibpädagogisch-methodische Arbeit fand ich die Aussage: In der 3. Person Singular (ihre auto(r)biografische Fiktion Hoppe ist in der 3. Person geschrieben) gehe es im Schreibprozess eher ans „Eingemachte“, in der 1. Person sei die Verlockung auszuweichen größer.
  • 5. Gedanke: Auch wenn Kunstmachen, das Schreiben eines Romans oder einer Erzählung etwas sehr Anderes ist als politisches Handeln: „Im höchsten Sinne gibt es keine unpolitische Literatur“, sagte Hoppe fast am Schluss. Und ich sage: Ja! So kann man sich auch nicht darüber streiten, welche Literatur engagierter daher kommt – jedes literarische Werk weist über die reine erzählte Geschichte hinaus, es bezieht Stellung in der Art, dass es das Faktische der Welt in welcher Weise auch immer (utopisch oder dystopisch) überformt. Dennoch: Literatur sei keine Anleitung zum richtigen Leben, sondern eine andere Darstellung – und damit bietet sich beim Lesen die Möglichkeit der Reflexion des eigenen Lebens.
  • 6. Gedanke: Um gute oder schlechte Literatur ging es nicht – wohl aber fielen Begriff wie postmoderne Schreibweisen oder Mehrfachkodierung. Ich kenne nur Hoppes Erzählband Picknick der Friseure – sehen würde ich gern einmal ihre Bücher mit Text-Bild-Konstellationen ...


27. Mai 2019

Solidarität

Arbeit an Begriffen (1)

Nach der Europawahl am gestrigen Sonntag ...
Schreiben ist auch immer (nicht nur im wissenschaftlichen Kontext) Arbeit an Begriffen. Wie verwende ich ein Wort, einen Begriff? Ist das Wort, der Begriff passend im Kontext? Woher kommt es/er, welchen vielleicht unerwünschten Beigeschmack gibt es, welche vielleicht gewünschten Assoziationen werden ausgelöst?
Als ich im Sommer 2018 im Auto im Schatten vor einem Laden saß, in dem Uli einkaufte, hörte ich im Deutschlandfunk, ich glaube am 5. August, ein längeres Interview mit dem Soziologieprofessor Stephan Lessenich (Ludwig-Maximilians-Universität München). Der aktuelle Anlass: das Erscheinen der Taschenbuchausgabe seines Buches Neben uns die Sintflut. Wie wir auf Kosten anderer leben im Juli. Das Thema: Solidarität, der Begriff, historisch, politisch und die Beigeschmäcker betreffend. Ich höre nicht oft Radio, vielleicht deshalb zückte ich beim ersten Aufmerken, beim plötzlichen Erfasstsein mein Notizheft.
Bereits der Soziologe und Ethnologe Émile Durkheim (1858–1917), so erfuhr ich, unterschied mechanische und organische Solidarität. Die mechanische Solidarität meint eine solche unter Gleichen, etwa der ArbeiterInnen in einem Betrieb oder einer Branche. Die (historische) ArbeiterInnenbewegung ist zwar einerseits international, andererseits aber auch darauf bedacht (gewesen), dass niemand in den definierten Raum der Solidarität eindringt. Ebenso ist die u. a. von Angela Merkel geforderte Solidarität innerhalb der Europäischen Union in Bezug auf die Aufnahmezahlen von Flüchtlingen eine, die der Abschottung nach außen dient. Hier – und insbesondere auch im Zulauf zu den rechtspopulistischen Bewegungen in Europa – zeige sich ein „neuer Nativismus“, eine „Solidarität nur mit den eigenen Leuten“.
Die organische Solidarität meint eine solche unter Ungleichen und beruht auf der Einsicht, dass Menschen (und auch andere Wesen) wechselseitig voneinander abhängig sind, dass nichts, was in einer globalisierten Welt entschieden wird, ohne Folgen für alle anderen Wesen bleibt. Die zentrale Aussage Lessenichs: Unser gesellschaftlicher Wohlstand beruhe auf mangelnder Solidarität in vergangenen Zeiten.
„Im Grunde wissen wir es alle: Uns im Westen geht es gut, weil es den meisten Menschen anderswo schlecht geht. Doch nur zu gerne verdrängen wir unseren Anteil an dem sozialen Versagen unserer Weltordnung. Der renommierte Soziologe Stephan Lessenich bietet eine sehr konkrete und politisch brisante Analyse der Abhängigkeits- und Ausbeutungsverhältnisse der globalisierten Wirtschaft. Anders, als wir noch immer glauben möchten, profitieren nicht alle irgendwie von freien Märkten. Die Wahrheit ist: Wenn einer gewinnt, verlieren andere. Und jeder von uns ist ein verantwortlicher Akteur in diesem Nullsummenspiel, dessen Verlierer jetzt an unsere Türen klopfen.“ Zu lesen ist dieser Text auf der Verlagsseite (Piper).
Lessenich plädierte an jenem Augusttag dafür, globale Solidarität zu üben. Sie sei allerdings „voraussetzungsvoll“. Denn sie fordern Denkanstrengungen, die zu (politischen) Einsichten führen. Diese Einsichten wiederum führen in die (politische) Verantwortung, weil wir verstanden haben, dass wir „objektiv in die Verhältnisse gestellt“ sind. Und was bedeutet das dann für unser Handeln?
Wir, d. h. insbesondere die gutsituierten BürgerInnen der sog. westlichen Hemisphäre, müssen Privilegien aufgeben. Es geht nicht ohne Verzicht, ohne Verlust, ohne ,Runterfahren’. Lessenich nannte ein Beispiel: Während die Forderung nach einer guten medizinischen Versorgung aller Menschen auf der Erde richtig sei, sei die nach größtmöglicher Mobilität für alle eine die Lebensgrundlagen zerstörende Forderung und damit abzulehnen – was für uns bedeutet: auf Urlaubsflüge, auf den Zweitwagen, auf Luxusgüter aus Übersee etc. zu verzichten. Ja, Solidarität, die perspektivisch allen auf der Erde zugute kommt, geht nicht ohne Verzicht – auch wenn alle PolitikerInnen das immer wieder behaupten.

Lessenich, Stephan (2018): Neben uns die Sintflut. Wie wir auf Kosten anderer leben. 2. Auflage. München: Piper


22. Oktober 2018

75 + 35

Kassel + Bonn

Die HNA ist voll davon, seit Wochen Erinnerungen an die Zerstörung Kassels mit tausenden Toten am 22. 10. 1943. Das ist 75 Jahre her, einige Menschen leben noch, die sich erinnern, die geprägt worden sind für ihr Leben. Was mich daran stört? Sich (frühe) Lebens-Prägungen bewusst zu machen, ist überaus sinnvoll, sind sie es doch, auf denen wir unsere Weltanschauung aufbauen, die uns in unseren Handlungen leiten. Wenn wir uns diese nicht bewusst machen, steuern sie uns auch – nur sind wir ihnen dann ausgeliefert. Das gilt für Individuen, das gilt für Institutionen, das gilt für Gesellschaften bzw. Nationen. Soweit so sinnvoll. Aber in diesen Erinnerungen ging es meist eben nicht um diesen erweiterten Blick, sondern meist wurde nur das Grauen noch einmal geschildert, die Verluste noch einmal beweint. Das ist für eine Zeitung aber nicht ausreichend. Sie hat die Aufgabe, tiefer zu gehen, zu befragen, zu kommentieren, Konsequenzen aufzuzeigen, individuelle, institutionelle, gesellschaftliche bzw. nationale. Auch muss sie zeigen, warum so etwas wie 1943 passiert ist und wie man so etwas heute verhindern kann.
Und dann war am 22. 10. noch ein weiterer Jahrestag, der der HNA keine Zeile wert war: Vor 35 Jahren, am 22. 10. 1983, gab es in Bonn eine Großdemonstration für Abrüstung, eine Antikriegsdemonstration mit zehntausenden Menschen. Hätte man diese beiden Jahrestage (75 + 35) nicht wunderbar journalistisch aufbereitet verbinden können?


15. Oktober 2018

Leseüberforderung

Was tun mit all den Stapeln und Ausrissen?

Das ist wahrscheinlich nicht nur mein Problem: Auf der Eckbank stapeln sich ungelesene oder undurchgesehene Zeitschriften, in der Ecke des Schreibtischs stapeln sich ungelesene Ausrisse aus den irgendwann zwischen den Jahren durchgesehenen Zeitschriften. Die ich lesen, studieren gar, aufheben und auch in Kursen oder Veröffentlichungen verarbeiten will. Etwa 30 Ausrisse, ganzseitige wohlgemerkt, hatte ich mit im Wangerland und brachte sie alle (ungelesen) wieder mit nach Hause (es hat einfach nicht geregnet in den drei Wochen an der Nordsee). Jetzt wird also die Altpapiertonne abgeholt (montags alle vier Wochen, immer ein Grund, um aufzuräumen, wir haben übrigens zwei Altpapiertonnen!), und ich nehme den Urlaubsstapel in die Hand, schaue ihn durch, werfe fünf Blatt weg – toll! Die restlichen 25 (zu denen ja noch die wahrscheinlich weiteren 15 der noch undurchgesehenen Zeitschriften auf der Eckbank kommen) lege ich auf den Stuhl, auf den ich immer alles lege, was mit ins Büro wandern soll. Und ich weiß, das Problem ist nicht gelöst. Wobei – ein Problem? Doch, ja. Offensichtlich überfordern mich meine vielfältigen Interessen, meine Lese- und Verarbeitungsansprüche. Aber ich kann doch nicht die Artikel zur Frage nach gegenderter Sprache wegwerfen! Ich kann ja noch nicht mal den Text wegwerfen, in dem es um Konzepte des Schreibenlernens geht (weil er vielleicht für Martina von Interesse sein könnte, die sich gerade fragt, ob ihr Kind denn Schreiben lernt, wenn er sich erst mal nur auf sein Gehör verlassen soll). Und den Artikel, in dem es um Kreatives Schreiben mit Flüchtlingen geht, kann ich auf gar keinen Fall wegwerfen (den bekommt Nadja, aber vielleicht will ich das ja auch noch tun, wenn ich in Rente bin, Alphabetisierung oder so ...). Ja, und die Analyse der aktuellen öffentlichen Sprachgebärden dieser Marie Schmidt (oder war es Antonia Baum?), die mir in der Gendersprachdebatte so aus dem Herzen geschrieben hat (DIE ZEIT, 30. 5. 2018: „Unser Deutsch ist ungerecht und ungenau. Deshalb müssen wir anders sprechen und schreiben als bisher“) – vielleicht kann ich den Text ja als Gastbeitrag hier demnächst posten (nachdem ich ihn gelesen habe, natürlich).
Wenn das alles nicht nur mein Problem ist: Wie lösen Andere das Dilemma, das sich zunächst wie ein zeitliches anfühlt, aber wahrscheinlich auch eins ist, das aus einer Nicht-Fokussierung entsteht – oder aus was? Meine Buchhändlerin erzählte mir neulich, dass sie sonntags abends alle Feuilletons der Woche, die sie bis dahin nicht gelesen habe, wegwerfe – uih uih, wie mutig, nein, das könnte ich nicht!
Jetzt mal vorerst nehme ich ein bisschen Druck von meinen Schultern, auf denen Stapel von Ausrissen liegen (und Papier ist echt schwer), indem ich mit einem kreativen Schreibverfahren an die Artikel herangehe, mal sehen, ob ich danach wieder etwas in der Altpapiertonne entsorgen kann ... Bleibt jetzt ja also nur die Frage zu beantworten: Welchen Artikel beantworte ich zuerst?
Und dann lese ich, dass jeden Tag in Deutschland 200 neue Bücher erscheinen, OH NEIN.


1. Oktober 2018

Wir sind mehr!

Es gibt kein Recht auf Nazi-Propaganda

(Eine Art Reportage mit persönlichem Fokus)

17. September. 16.20 Uhr, der Opernplatz ist mit roten Metallständern abgesperrt, die Kioske, Kaufhof und C&A haben geschlossen. 16.30 Uhr, die Straßenbahnen fahren nicht mehr durch die Obere Königsstraße. Bewaffnete Polizei steht auf dem Dach des Café Alex, die Café-Terrasse draußen ist geschlossen. Eine Bühne wird auf dem Opernplatz aufgebaut.
Warum bin ich hier? Ich habe mich nach etwa 15 Jahren zum ersten Mal wieder aufgemacht, um auf der Straße zu zeigen, gegen und für was ich stehe. Ich kann nicht sagen, dass ich Angst habe, dass uns ein zweites Drittes Reich droht. Aber ich kann sagen, dass die AfD- und Pegida-Propaganda und vor allem die vielen, die nicht verstehen, was sie da unterstützen, oder die ihr Gehirn und ihr Herz ausgeschaltet haben, weil sie selbst nicht wissen, wofür sie eigentlich leben (wollen), mir Angst machen. Und ich kann auch sagen, dass mich die Medien unheimlich aufregen. Warum wird über den Tod eines Deutschen, der mutmaßlich von zwei Migranten erstochen wurde, so berichtet, dass daraus solch eine Eskalation wie in Chemnitz entstehen kann? Seiten um Seiten, u. a. auch in der HNA. Warum wird aber über den Tod eines 19-jährigen Deutsch-Marokkaners durch einen 17-jährigen Deutschen nur eine kurze Notiz an einem einzigen Tag veröffentlicht (HNA, 17. 9. 2018)? Es liegt nahe zu glauben, dass die Nordhessische Monopol-Tageszeitung die Einteilung von Menschen in erster und zweiter und dritter Klasse unterstützt.
Ich bin hingefahren an diesem Spätsommermontag, weil ich so wütend bin über die Dreistigkeit, die Lügen, den Hass, die ,Volks’-Verdummung. Weil ich mich so ohnmächtig fühle, weil das vielleicht anders wird, wenn ich sehe, dass auf der einen (meiner) Seite mehr sind als auf der anderen. Weil ich wissen will, wer im Ernstfall ...
„Wir sind mehr!“ Das Motto der aktuellen Bewegung gegen Hass, Hetze und völkischen Rassismus ist gut. Aufgerufen zum Protest gegen die Landtagswahlkampfveranstaltung der AfD hat ein breites Bündnis gegen Rechts aus DGB, Antifa, AStA, Bündnis 90/Die Grünen usw. Uli Schneider von der VVN (1) spricht, es ist laut, ich verstehe nicht alles. Aber was ich verstehe, ist gut: „Faschismus ist keine Meinung!“, sagt er. Später werden wir rufen: „Es gibt kein Recht auf Nazi-Propaganda!“ Und ich denke an das, was ich vor Jahrzehnten begriffen habe: Toleranz hat zwei Seiten, die zweite ist gefährlich: Die repressive Toleranz (2) erlaubt unter dem Mantel der vermeintlichen Großherzigkeit und Weltbürgerlichkeit Menschen eine Meinung, eine Position, die Verbreitung von Lügen und Ideologien, die, denkt man sie zuende oder handelt gar danach, Menschen massiv schaden. Es kann keine Toleranz gegenüber völkisch-nationalistischer Propaganda geben!
17.30 Uhr, ein paar Deutschlandfahnen werden geschwenkt, 90 AfD-AnhängerInnen haben sich eingefunden. Wir auf der anderen Seite der Absperrung sind 2.500 – wir sind mehr, zum Glück! Warum haben sich die breitbeinig positionierten und martialisch sich gebenden Polizisten mit bewegungslosen Gesichten und zähnefletschenden Hunden uns zugedreht? Von wem geht die Gefahr aus.
„AfD zu wählen, weil man mit der aktuellen Politik nicht einverstanden ist, ist wie Wasser aus dem Klo zu trinken, wenn einem das Bier in der Kneipe nicht schmeckt.“ Ich muss lachen, als ich dieses Transparent lese. Und dann höre ich: „Hoch – die – antinationale Solidarität!“ Das ist das Highlight des Nachmittags! Ich rufe mit. Solch ein zutreffender Spruch, der den altbekannten kreativ weiterentwickelt hat. Es war immer schwer, früher auch, die Demo-Sprüche aus vollem Herzen mitzurufen – heute geht das, ich freue mich! Und am Ende singen alle diesseits der Absperrungen mit den Ärzten „Deine Gewalt ist nur ein stummer Schrei nach Liebe“ (3). Ob Dechant Harald Fischer bei seinen Gesprächen jenseits der Absperrungen etwas hat ausrichten können, wenigstens in Sachen Liebe oder Herzensgüte?

  1. Repressive Toleranz ist der Titel eines Essays des deutschen Soziologen und Philosophen Herbert Marcuse. Diese Abhandlung ist Teil der 1965 erschienenen Kritik der reinen Toleranz.
  2. VVN-BdA e.V. ist die Abkürzung für: Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten.
  3. Schrei nach Liebe ist ein Lied der Berliner Punkrock-Band Die Ärzte, das sich gegen Neonazis richtet und erstmals 1993 als erste Single der Band nach der Wiedervereinigung veröffentlicht wurde.


17. September 2018

Prüfkriterium für Sexismus

Gastbeitrag von Susanne Hüfken

In der Schreibwerkstatt am 13. 9. ließen wir uns von Anfangssätzen utopischer (und dystopischer) Romane inspirieren. Susanne Hüfken wählte den ersten Satz aus einem über 40 Jahre alten Buch, das immer noch die Augen öffnen kann und Spaß macht beim (Wieder)Lesen: Die Töchter Egalias. Leider ist es wohl nur noch antiquarisch zu finden. Aber sicher haben viele Wibschen es noch in ihren Regalen zu stehen. Ich freue mich, dass Sanne mir ihren Text für meinen Blog zur Verfügung stellt. Er schlägt einen Bogen über diese 40 Jahre, er schafft es aber auch aufzuzeigen, dass es erhellend, öffnend und hilfreich sein kann, dieses Buch noch einmal zu lesen, will per sich jedweder Ungerechtigkeit zumindest verbal in den Weg stellen.

Die Töchter Egalias
„Schließlich sind es noch immer die Männer, die die Kinder bekommen“, sagte Direktorin Bram und blickte über den Rand der Egalsunder Zeitung zurechtweisend auf ihren Sohn. Petronius heulte und schrie. „Ich will Seefrau werden! Warum dürfen Männer nicht Seefrau werden? Nur wegen diesem verdammten PH, der angeblich auch am Tauchanzug sein muss – und nicht bissfest genug ist?!“
So ähnlich beginnt der Roman Die Töchter Egalias. Mit einem Kniff macht die Autorin Gerd Brantenberg die Un-Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern deutlich: Sie tauscht einfach die Geschlechterrollen. Das heißt, eigentlich beschreibt sie eine ganz normale Familie in einer ganz normalen Gesellschaft in sowas wie Norwegen in den 1970er Jahren. Der kleine Unterschied hat es in sich: Frauen und Männer tauschen die Rollen.
Durch diesen Trick werden viele Ungerechtigkeiten, Ungleichheiten deutlich und sehr viele Absurditäten in unseren gesellschaftlichen Konventionen.
„Schließlich sind es immer noch die Männer, die die Kinder bekommen.“ Denn mit der Schwangerschaft und der als großes, schönes, lustvolles Ereignis ganz öffentlich zelebrierten Geburt haben die Frauen genug zur Reproduktion beigetragen. Jetzt sind die Männer dran, das schwache Geschlecht. Schwach nicht im körperlichen Sinn, sondern im geistigen.
Als logische Folge können Männer nicht Seefrauen werden. Das sagt doch schon das Wort: Männliche Seefrau – wie bescheuert klingt das denn? Und, Petronius, du weißt: Ein Seefrauentauchanzug hat keinen PH – keinen Pimmelhalter – und ohne einen PH geht kein anständiges Herrlein aus dem Haus.
Ich habe diesen Roman gelesen, als ich 15 Jahre alt war. Und mir gingen Seifensieder auf – nicht dass ich einen BH gehabt hätte oder auch nur gewollt (den hatten meine Mütter ein paar Jahre vorher verbrannt). Aber der Rest …
Seither hatte ich ein Prüfkriterium für Sexismus. Wenn mir etwas komisch vorkommt – im Hinblick auf Gerechtigkeit zwischen Frauen und Männern –, drehe ich die Rollen um. Ist es immer noch Ordnung, wenn eine Frau sich sooo verhalten würde? Wie wird ein Mann angesehen, wenn er das sooo machen würde?
Das fing bei den verdammten Pfiffen an, wenn ich über die Straße ging, und hörte bei der Sprache längst nicht auf. Ich bat um die Flaschenöffnerin und heftete Wichtiges in meine Ordnerin.
Jetzt – nach 30 Jahren – werden Frauenrechte wieder infrage gestellt. Der Streit tobt beim Thema Abtreibung und ums Stillen im Landtag.
Wahrscheinlich ist es wieder Zeit, den Roman zu lesen, sich Fantasie machen zu lassen im Umkehren von Rollen – nicht nur bei Frauen und Männern und Sprache. Auch die Verhältnisse zwischen Menschen mit verschiedenen Hautfarben, Religionen, zwischen Kindern und Eltern könnten so auf Gerechtigkeit überprüft werden.
Gerd Brantenberg: Die Töchter Egalias. Roman. Verlag Frauenoffensive 1987 (Original 1977, Pax Forlag (Norwegen))

Susanne Hüfken wurde 1967 geboren und ist Pfarrerin in der Nähe von Kassel. Feministische Themen oder Sichtweisen auf die Welt begleiten sie seit ihrer Schulzeit. Seit 20 Jahren lebt Susanne Hüfken in einer Gemeinschaft mit 60 anderen Erwachsenen und 20 Kindern, in der sie nach dem Bedürfnisprinzip leben: Alle geben, was sie können, und nehmen, was sie brauchen. Die Gemeinschaft versucht, ökologisch und geschlechtergerecht zu leben und alle wesentlichen Entscheidungen gemeinsam zu treffen.


3. September 2018

Ein neues Gedicht

für die ASH-Südfassade

Die Debatte um das Gomringer-Gedicht scheint immer noch nicht ohne Häme, Sticheleien oder zumindest Untertöne auszukommen. So lese ich jedenfalls das, was Perlentaucher zur nun kurz bevorstehenden Neugestaltung veröffentlicht.
Auf der Website der Alice Salomon Hochschule selbst klingt es anders und auch visionärer.
Auf jeden Fall wird bald folgendes Gedicht der Alice Salomon Poetikpreisträgerin 2018 – Barbara Köhler – dort zu lesen sein, das sich inhaltlich und sprachgestalterisch mit dem Gomringer-Gedicht auseinandersetzt.

SIE BEWUNDERN SIE
BEZWEIFELN SIE ENTSCHEIDEN:
SIE WIRD ODER WERDEN GROSS
ODER KLEIN GESCHRIEBEN SO
STEHEN SIE VOR IHNEN
IN IHRER SPRACHE
WÜNSCHEN SIE IHNEN
BON DIA GOOD LUCK


25. Juni 2018

Solidarität statt Heimaty

Oder: Farbe bekennen, wenigstens mit einer Unterschrift

Manchmal muss ich etwas Anderes posten bzw. sagen – mit Sprache und Text hat es immer zu tun, aber nicht immer mit Kreativem Schreiben. Was ich heute sagen will: Solidarität statt Heimat. Es ist unerträglich, die Hetzereien allerorten, von türkischen und bayrischen Nationalisten über Fußballtrainer und -fans bis zu LeserbriefschreiberInnen und NachbarInnen! Was ist eigentlich euer Problem? Seid ihr nicht so satt und reich und sicher und multiprivilegiert, wie man in dieser Welt nur satt und reich und sicher und multiprivilegiert sein kann?!
Ich unterzeichne nicht oft Verlautbarungen im Netz oder auf der Straße, aber gestern musste es sein. Ich habe den Text Solidarität statt Heimat (powered by kritnet, medico international & ISM) unterzeichnet, als 8838.! Falls das Bedürfnis besteht, das auch zu tun, ein winziges Zeichen zu setzen, hier ist der Link.


14. Mai 2018

Die Fassaden-Geschichte

und mein persönlicher Schmerz

Selten habe ich in meinem Leben eine so schmerzhafte Woche erlebt wie die vom 28. 1. bis 5. 2. 2018 (gemeint ist die Woche, in der die Hetze gegen die Alice Salomon Hochschule aufgrund der Gedichtentfernungsentscheidung losging und in der ich um eine Positionierung rang, die hier unter dem 5. 2. (Einmischungen) zu lesen ist). Ja, es gab in meinem Leben natürlich Schmerz aufgrund von Beziehungsdramen, Ängsten um die Kinder, des Todes naher Menschen, einer Krebsdiagnose ... Auf dieser Ebene aber lag (bzw. liegt) der Schmerz nicht, der mich so hart traf.
Es ist ein Schmerz, der durch ein Erkennen entsteht, ein plötzliches Erkennen: dass etwas ganz anders ist als angenommen. Mit einer Wucht, die ich selten erlebte habe, traf mich die Erkenntnis, dass all das feministische Engagement (meines und das vieler Anderer) möglicherweise nichts bewirkt hat, dass mein Vertrauen in die Veränderung eine Illusion war, vor allem aber, dass meine Position, meine feministische Identität nichts gilt.
In meiner Kindheit trug ich Lederhosen, kurze im Sommer, die Kniebundvariante im Winter, kein Kampf darum mit Mama und Papa. Zu Karneval (und auch in manchem Sommer) war ich der Indianerhäuptling der Krusestraße, unangefochten auch von den Nachbarsjungen. Und ganz klar in meinem Innern das Konzept (damals selbstredend nicht so definiert): Ich will nicht kein Mädchen sein, ich will auch ein Junge sein. Später dann die (Mehrfach-)Beziehungsversuche mit Männern und Frauen – da entstand parallel zur Praxis auch ein theoretisches Gebäude, maßgeblich beeinflusst von Simone de Beauvoirs Das andere Geschlecht: Das Konzept der Zweigeschlechtlichkeit mit der diesem innewohnenden Hierarchie ist abzulehnen. Konsequenzen daraus sind die Kämpfe um Gleichberechtigung, um Gleichwertigkeit, schließlich auch immer um die Auflösung der Geschlechterdualität/-polarität; Niederschlag fanden sie in jeder privat geführten Debatte, in der Mitherausgabe der Wuppertaler Frauenzeitung, in Positionierungen im Kommune-Kontext, in der Gründung von Frauen-Schreibwerkstätten ...
Seit etwas mehr als einem Jahrzehnt unterrichte ich nun an der Alice Salomon Hochschule, positioniere mich eindeutig in Inhalten und Sprache; so akzeptiere ich z. B. nicht die Verwendung des generischen Maskulinums, weil Texte dann angeblich leichter zu lesen sind (sind sie übrigens u. a. deshalb nicht, weil vor allem frau beim Lesen mit Aggressionen zu kämpfen hat).
Und nun soll all das, wofür ich brenne, was ich als richtig und wichtig für mich und die Welt meine erkannt zu haben, wofür ich im privaten und im öffentlichen Raum streite, seit ich denken kann, einfach etwas Überzogenes karriereverhinderter Emanzen sein (oder was es an unsäglichen Titulierungen noch so gab/gibt)?
Es hat mich an die Wand geschleudert, es schleudert mich mit fast jeder neuen Verlautbarung in den Medien wieder an die Wand: Ich gelte nicht. Meine Erkenntnis gilt nicht, ist nichts wert, ist überflüssig, hochgezogen, ewig gestrig, in den 68ern stecken geblieben; ich werde psychologisiert, abgewertet, ins Abseits gestellt; ich habe als die, die ich bin, geworden bin, als die ich auf die Welt schaue, als die ich lebe, liebe, unterrichte ... keine Existenzberechtigung – jedenfalls versuchen die Verlautbarungen in den Medien mir diese abzusprechen. Das ist schlimm. Das ist schlimmer, als es die Krebsdiagnose war!
Ich bin 57 Jahre alt, meine erste Erinnerung an eine geschlechtsspezifische Positionierung ist eine im Kindergarten, als ich drei Jahre alt war. 54 Jahre Ringen um Positionen, innere und äußere, 54 Jahre Denken, Fühlen, Wollen, Debatte, Diskurs, Erkenntnisse, Weiterdenken ... und dann: „Was soll der Quatsch?“, „Habt ihr nichts Wichtigeres zu tun?“, „Unersättlich, diese Frauen!“
Wohin mit diesem Schmerz? Und wie komme ich aus dem Entsetzen und der ihm folgenden Resignation wieder heraus? Ich kann es einfach nicht glauben, dass das, was diese (meist) männlichen Schreiberlinge sich erlauben, erlaubt sein soll, dass das (sprachlich und inhaltlich) gelten soll, dass das das Morgen bestimmen soll!


19. Februar 2018

#MeToo

Eine notwendige Debatte

#MeToo ist in aller Munde – iih, ein bisschen eklig, diese Vorstellung. Okay, noch mal: Zu #MeToo äußern sich alle. Und wie bei der Gomringer-Gedicht-Sache verwechseln viele das Eigene, das Private, das selbst Erfahrene und auch Visionen mit dem, was gesellschaftlich notwendig an dieser Debatte ist. Es ist schön, dass viele Frauen noch nie genötigt wurden, es ist schön, dass viele Frauen noch nie sexuell missbraucht wurden – aber diese Tatsache erübrigt nicht eine Debatte über gesellschaftliche Machtverhältnisse, die es ermöglichen, dass so etwas geschieht und nicht geahndet wird! Oder wie Heike Makatsch es in einem Interview zur Debatte sagte: „[...] es geht um Machtmissbrauch. Und darum, die Augen darauf zu richten, dass Frauen gleichberechtigt sein müssen, gleich wichtig, gleich bezahlt, gleich angesehen. Dass ökonomische Strukturen verändert werden müssen, in denen mit abhängigen Menschen unmenschlich umgegangen werden kann. [...]“ (Süddeutsche Zeitung 15. 2. 2018, S. 8).
Zur #MeToo-Debatte empfehle ich den Blog-Beitrag meiner Kollegin Hanne Landeck zu lesen, in dem es um Machtverhältnisse im öffentlich-rechtlichen Rundfunk geht und wie patriarchalisch sie sind: #MeToo – Aus dem Nähkästchen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks/ (abrufbar hier).
Nicht empfehle ich, die Kolumnen des Harald Martenstein im ZEIT-MAGAZIN zu lesen (einfach zu oft sind sie undifferenziert und verschleiern das hinter der Satire stehende Interesse). Er versäumt wie die meisten vom Stammtisch bis in die Vorstandsetagen, zwischen individuellen Verhältnissen sowie institutionellen und gesellschaftlichen (Macht-)Strukturen zu unterschieden. Wenn er dem Schauspieler Matt Damon Mut attestiert, etwas Unbequemes zu sagen, das in der #MeToo-Debatte nicht PC erscheint, ihn bedauert und verteidigt – und was wird da mutig genannt? Damon soll gesagt haben, dass es ein Unterschied sei, ob man „jemandem einen Klaps auf den Hintern gibt oder eine Vergewaltigung begeht“ (ZEIT-MAGAZIN Nr. 7, 8. 2. 2018, S. 16). Äh, ja klar, aber ... Erstens kann ich an dieser Äußerung nichts mutig finden. Zweitens ist das Klima, in dem jemand (welches Geschlecht dieser Jemand wohl hat und in welcher Machtposition dieser Jemand wohl zu dem anderen Jemand steht?!) einem anderen Jemand (dito) einen Klaps auf den Hintern geben kann, ohne dass die Berechtigung infrage gestellt wird, genau das Klima, in dem die Grenzen hin zu massiveren Übergriffen (denn das ist ein Klaps auf den Hintern auch, außer er wurde vorher unter gleichwertigen PartnerInnen vereinbart) sich legitimiert verschieben. Herr Martenstein hat an dieser Stelle nicht weit oder tief genug gedacht und fördert so leider das eben beschriebene Klima – auch wenn er wahrscheinlich etwas Anderes bezweckt hat.
Was ich sagen will: Es geht nicht um ein Denk- oder Sprechverbot, nicht um Zweifel an Auswüchsen von Debatten, sondern darum, dass es gut ist, wenn ein Matt Damon für diese seine Äußerung nicht nur gestreichelt wird – denn sie IST UNSÄGLICH!


5. Februar 2018

Das Gomringer-Gedicht und mein Unbehagen

Oder: Die Wahrheit ist den Menschen zumutbar (Ingeborg Bachmann)

Warum fiel es mir so schwer mich zu positionieren, wo sich in Windeseile alle Welt privat und in den Medien positionierte? Wovor hatte ich Angst? Ich habe doch sofort den AStA-Brief befürwortet, ich habe einen Offenen Brief ans PEN-Zentrum mit unterzeichnet, also habe ich doch eine Meinung, oder? Was lässt mich erschreckt zusammenfahren, wenn Menschen, mit denen ich mich verbunden fühle, die Gedicht-Entfernungs-Sache mit Bücherverbrennungen in Verbindung bringen, was, wenn sie die Erotik im öffentlichen, ach so aufgeklärten, frauenfreundlichen westeuropäischen Raum auf der Strecke bleiben sehen, was, wenn sie die Freiheit der Kunst (was auch immer das nun sein soll oder warum Altlinke nun plötzlich solch einen liberalistischen Begriff benutzen) an Gebäuden und überhaupt gefährdet sehen? Was hält mich davon ab, sofort zu sagen, natürlich ist das Gedicht sexistisch, aber ja, es fixiert überkommene Frauenbilder? Frauen schenkt man Blumen, Männer schenkt man Whiskey – und wenn ich Whiskey will ... Alleen/Blumen/Männer/eine Bewunderin – ähhh ...

Worum es hier geht:
Das Gedicht (deutsche Übersetzung)
Alleen
Alleen und Blumen
Blumen
Blumen und Frauen
Alleen
Alleen und Frauen
Alleen und Blumen und Frauen und
ein Bewunderer

Der Akademische Senat der Alice Salomon Hochschule, an der ich seit 2007 Schreibgruppenpädagogik und Schreibgruppendynamik am Masterstudiengang Biografisches und Kreatives Schreiben unterrichte, hat Ende Januar beschlossen, das Gedicht von Eugen Gomringer, das seit einigen Jahren die Südfassade der Hochschule dominiert, zu übermalen. Zum langen demokratischen Prozess in der Hochschule empfehle ich, den Blog-Eintrag meiner (in den Prozess involvierten) Kollegin Nadja Damm (avenidas ahoi!) zu lesen (abrufbar hier).

Worum es nicht geht:
Es geht hier nicht und mir sowieso nicht um Eugen Gomringer, den ich als einen der Väter/Mütter der Konkreten Poesie überaus wertschätze, der den Poetikpreis der Alice Salomon Hochschule unbedingt verdient hat und dessen Gedichte (insbesondere das von ihm als Form erfundene Konstellationsgedicht) ich seit Jahren in meinen Schreibwerkstätten als wunderbare Formen vorschlage zu nutzen. Allerdings: Noch nie habe ich dieses Konstellationsgedicht benutzt, um das es hier geht – schon vor ca. einem Jahrzehnt, als ich es als Schreibpädagogin kennen und für meine Arbeit wertschätzen lernte, benutzte ich dieses mit der Alleen-Blumen-Frauen-Bewunderer-Konstellation nicht als Beispiel, sondern eigene. (Und dass Eugen Gomringer jetzt allerorten als armer alter Mann bedauert und ehrengerettet wird, weil er es nicht verdient habe, als Sexist dargestellt zu werden, ist albern – denn darum geht es wirklich überhaupt nicht in der Debatte! Und es ist doppelmoralisch, denn viele der selbst ernannten RetterInnen der Kultur oder des Poeten halten von der Konkreten Poesie genauso viel wie Rosamunde Pilcher-Fans von Arno Schmidt.)

Worum es geht, aber hier nicht:
Es geht um Demokratie-Prozesse. Dazu empfehle ich, die Kolumne von Stefanie Lohaus (Die Blumen von gestern) in der ZEIT-online zu lesen (abrufbar hier).
Tagelang habe ich mit mir gerungen, versucht mich zu drücken, mich vor mir selbst mit meinem (tatsächlich gerade) anstrengenden Leben zu entschuldigen, mich zu beruhigen mit dem Argument, ich müsse ja nicht zu allem, was irgendwie nach feministischer Positionierung ,schreit’, Stellung beziehen. Das Ringen, die Versuche zu entkommen – Fehlschläge. Und dann fand ich auch noch ein Zitat: „Flüstern Frauen nur bei verschlossenen Türen von Freiheit?“, schrieb die 1818 geborene Frauenrechtlerin Louise Otto-Peters irgendwann Mitte des 19. Jahrhunderts, also vor 150 Jahren. Alos ...

Hier bin ich:
Und sei es nur – wie ich immer voller Inbrunst verkünde, wenn mir FreundInnen von Scham ob des eigenen ohnmächtigen Schweigens in unsäglichen Situationen in der Straßenbahn, im Fitness-Studio, in der Schule oder in anderen (halb-)öffentlichen Räumen –, um eine ANDERE Position DANEBEN zu stellen, um nicht nichts zu sagen, um den Raum für das ganze bereits in der Welt Stehende kleiner zu machen, einfach weil das, was ich dazu zu sagen habe, auch Raum beansprucht.
Hier bin ich und ich beziehe Position. Ich beziehe eine Position aus zwei Perspektiven. Aus den beiden Perspektiven, die ich autobiografisch immer eingenommen habe und professionell auch einnehmen kann und will. Was auch bedeutet: Es wird kein Rundumschlag. (So bleibt z. B. die Frage nach dem Unterschied zwischen grammatischem und semantischem Geschlecht vorerst ausgespart.) Auch versuche ich, ohne diese gewaltige (gewalttätige) Sprache voller Machtanspruch auszukommen.
Die erste Perspektive ist die des Gender Mainstreaming und der feministischen Wissenschaftskritik; die zweite ist die der Sprache als mit der gesellschaftlichen Entwicklung dialektisch verbundenes Phänomen, als von Menschen, Weltbildern und Machtverhältnissen geformte und als Kraft, die wiederum diese mitzuformen vermag. Meine Position verbindet beide Perspektiven.

Gender Mainstreaming:
Wenn Frauen in einem Atemzug mit Alleen, Blumen und einem Bewunderer genannt werden, dann wird unterschieden zwischen Mann bzw. Frau als Subjekt bzw. Objekt, dann wird ein traditionelles Geschlechterbild manifestiert, dann werden Assoziationen wie Hinterherpfeifen, Anzüglichkeiten, Anmache, Übergriffe von Männern im öffentlichen und halböffentlichen (Arbeitsplatz) Raum angetriggert. Das ist eine Perspektive als davon betroffene Frau, die ich einnehme. Aus dieser Position heraus kritisiere ich das Gedicht als sprachliche Setzung, das Denken und Handeln beeinflusst. Natürlich kann man nicht sagen, dass, weil das Gedicht an der Wand steht, es am U-Bahnhof Hellersdorf besonders viele sexistische Übergriffe gibt – aber weil es sie dort immer wieder gibt, kann man die Interpretation des Gedichts als Manifestation eines bestimmten (sexistischen) Blicks auch nicht einfach als Emanzen-Spinnerei abtun.
Das Gedicht bedient auf der inhaltlichen Ebene objektiv eben tatsächlich ein Muster: das der sich als dual, aber asymmetrisch und als alles andere als gleichberechtigt oder gleichwertig gegenüberstehende und mit mannigfaltigen stereotypen Zuschreibungen bedachten Geschlechter Mann und Frau. Die Zwangs-Heterosexualität gehört ebenfalls zu diesem mächtigen Konstrukt. Ich kritisiere das Gedicht aus einer feministischen Perspektive heraus, die nicht jammert, sondern die fordert, dass in jedem Diskurs die Differenz zwischen den Lebenswelten von Frauen und Männern, die sich aus der machtvollen patriarchalen Strukturiertheit aller Gesellschaften weltweit seit jeher gebildet haben und eine grundsätzlich unterschiedliche Weltwahrnehmung zur Folge haben, mit gedacht wird. Geschlecht als die Wahrnehmungen, das Denken und Handeln wesentlich bestimmende Kategorie kann nicht, soll ernst zu nehmende Kritik betrieben werden, ignoriert werden. Genauso wenig wie die Tatsache, dass es einen Unterschied macht, ob ich als weiße Akademikerin auf die Welt (ob in Form eines Gedichts oder in Form eines deutschen Panzers) schaue oder als männlicher Kurde in Nordsyrien.
Angenommen, es ist müßig, über das biologische Geschlecht zu streiten (wobei die Forderungen nach Toiletten für Menschen, die sich nicht zuordnen können, weil sie inter- oder transsexuell oder queer sind, das infrage stellen), müßig ist es nicht, über Gender zu sprechen: „Man wird nicht als Frau geboren, man wird es“, schrieb vor über 70 Jahren Simone de Beauvoir in ihrem Buch Das andere Geschlecht und meinte damit das, was heute als Gender bezeichnet wird: die Geschlechtrollen als sozial konstruierte und kulturell überformte. Ein Buchtitel aus dem Jahr 1977 zeigt, wie die Beauvoir’sche Erkenntnis sich im Zuge der erstarkenden Frauenbewegung u. a. in der Sozialpädagogik durchsetzt: Ursula Scheu veröffentlichte Wir werden nicht als Mädchen geboren, wir werden dazu gemacht. Zur frühkindlichen Erziehung in unserer Gesellschaft.
Gender Mainstreaming in Wissenschaft und Forschung sowie in gesellschaftlichen Debatten meint, die Tatsache immer mit einbeziehen zu müssen, dass das, was wir als weiblich oder männlich bezeichnen, dass wie wir als Frauen und Männer (oder als was auch immer) leben, nicht geschlechtsneutral sein kann. Den Blick dafür zu schärfen, die Differenz in den Blick hineinzunehmen, sich der eigenen Blickprägungen vorurteilsbewusst zu nähern und immer aus dem Wissen um diesen nicht neutralen Blick die Verhältnisse zu kritisieren, die Kategorie Gender also immer mitzudenken und damit „alles Vertraute auf seine unausgesprochenen Ausschlüsse hin zu prüfen“ (Gesine Kleinschmit und Elisabeth Lockhart in Lockhart et al. 2000: 54) – das ist unumgänglich! Und wenn wir uns dieser geschlechts- oder gendersensiblen Betrachtungs- und Herangehensweise aussetzen, dann ist darin eben auch die Möglichkeit enthalten, die Konstruktionen, die Frauen wie Männer und alle anderen auch festschreiben und einengen, zu dekonstruieren.

Sprache als Konstrukteurin:
„Wer die öffentlichen Zustände ändern will, muss zuerst bei der Sprache anfangen“, sagte der chinesische Philosoph Konfuzius vor 2.500 Jahren (zit. nach Frauen- und Gleichstellungsbüro 2012: o. S.). Sprache verändert sich, Gesellschaft verändert sich, in jeder Gesellschaft hat die sprachliche Selbstbezeichnung auch mit Identität zu tun. Mit Sprache, mit Begriffen sagen wir etwas darüber, wie wir die Welt begreifen und verstehen, und wir sagen mit den Begrifflichkeiten etwas über uns als Begreifende und Einordnende. Deshalb kann Sprache nicht geschlechtsneutral sein. Sprache in Gedichten kann nicht geschlechtsneutral sein. Und wenn Neutralität gar nicht das Ziel ist, also umgekehrt gedacht wird: Sprache ist immer auch davon geprägt, wie die Kategorie Gender sich in ihr niedergeschlagen hat oder wie sie sich im Akt des die Sprache Benutzenden niederschlägt.
Sprache ist also auch immer etwas, das historische Gegebenheiten abbildet. Das Gedicht ist Anfang der 1950er Jahre entstanden, da durften Frauen noch kein eigenes Konto eröffnen und nicht ohne die Erlaubnis ihres Ehemannes arbeiten – vor diesem Hintergrund kann man es auch interpretieren, aber wenn eine Hochschule im 21. Jahrhundert mit einem Gedicht öffentlich auftritt, dann sind andere Interpretationsebenen zusätzlich zu berücksichtigen.
Eine Hochschule als akadenische und wesentlich durch Sprache sich zeigende und konstituierende Institution kann vor der Tatsache, dass Sprache Spiegel und Visitenkarte ist, nicht die Augen verschließen. Spannend in diesem Zusammenhang sind die Entscheidungen der Universitäten Leipzig und Potsdam (seit 2013) sowie der Humboldt-Universität Berlin (seit 2014), in ihren amtlichen Verlautbarungen das generische Femininum zu benutzen (vgl. Pusch 2015). Erwähnenswert ist auch die Liste bei facebook, die rund 60 Bezeichnungen zur Selbstdarstellung im Kontext Gender anbietet (abrufbar hier).
Und wenn eine Hochschule als öffentliche Institution, in der junge Menschen (vor allem zu SozialpädagogInnen) ausgebildet werden, sich nicht scheut, eine Position einzunehmen, die der Tatsache Rechnung trägt, dass Sprache ein geprägtes System ist, das wiederum Gesellschaft prägt, und sich selbstkritisch zu einer eigenen öffentlichen Verlautbarung an exponierter Stelle der eigenen Institution verhält, dann zolle zumindest ich ihr Respekt. Das Auf-sie-Einprügeln hat sie an diesem Punkt ganz und gar nicht verdient.
(Ganz am Rande bemerkt: Genderkompetenz gilt als Schlüsselqualifikation, die Hochschullehrende sich aneignen und weitervermitteln sollen, seit der Bologna-Reform des Hochschulwesens seit Anfang des 21. Jahrhunderts.)

Das Schlimmste ist für mich:
Selbst wenn Menschen eine andere als eine explizit feministische Position haben, ist es überaus schmerzhaft (und zeigt die Notwendigkeit der feministischen Perspektive und die Notwendigkeit des Daneben-Stellens allerorten), dass die Positionen, die auch nur andeutungsweise die weltweite Situation von Frauen als Gender, als „das andere Geschlecht“, über das sich der Mann, immer noch in jeder Hinsicht erhebt, mit Begriffen wie „hochgezogen“, „übertrieben“, „aus der Luft gegriffen“, „political correctness“, „dogmatische Gesinnungen“ oder gar „Terror“ einfach weggebügelt werden. Man(n) und frau muss sie nicht teilen – aber ihnen auf diese Weise(n) die Existenzberechtigung abzusprechen, ist perfide und unzumutbar und traurig und frustrierend und immer wieder konsequent anzuprangern! Der Wunsch nach Räumen, in denen anders – und das bedeutet keineswegs ausschließlich kuschelnd und konfliktscheu – miteinander kommuniziert wird (Frauenräumen?), ist stärker denn je!

Das Wichtigste für mich:
Vielleicht habe ich gezögert, mich zu positionieren, weil ich länger brauche. Länger als die, die immer schon wissen, wie alles läuft und was alles zu bedeuten hat. Vielleicht aber habe ich auch so lange gezögert, weil ich erst einmal verstehen, wiedererkennen musste, was das Wichtigste ist: nicht, dass wir alle dieselbe Position haben, nicht, dass alle immer (m)einer Meinung sind, nicht, dass es nicht wichtig ist, dass Kunst provoziert oder aufrüttelt oder die Welt infrage stellt – nein, das Wichtigste ist, dass ich Positionen nur gelten lassen kann, wenn die dahinter stehenden Interessen und der eigene (Erfahrungs-, Denk- und Wissenschafts-) Standort transparent gemacht werden. Meinen Standort habe ich transparent gemacht. Mein Interesse: Ich werde nicht aufhören, für eine Welt mich einzusetzen, in der Frauen nicht mehr diskriminiert und unterdrückt werden, weil sie zum ,anderen’ Geschlecht gehören, und in der Menschen nicht mehr auf eine seit Jahrtausenden festgeschriebene Zwangszweigeschlechtlichkeit reduziert werden und in der für alle eine möglichst umfassende Freiheit von und Freiheit für gegeben ist. Und dafür hat es sich ganz und gar nicht ausgegendert –weder auf der individuellen Ebene in meinem privaten Umfeld, noch auf der institutionellen Ebene in ,meiner’ Hochschule, noch auf der gesamtgesellschaftlich-kulturellen Ebene (vgl. hierzu Horst 2017)!

Zum Schluss noch eine Idee:
Eine Idee, erwachsen in meinen Träumen in den letzten Tagen, in denen das ganze Getöse mit in mein Bett kam (ich konnte mich nicht erwehren): Wie wäre es mit einer offenen Schreibwerkstatt, in der Konstellationsgedichte gedichtet werden, Antworten auf das Gomringer-Gedicht, die dann alle auf die Pflastersteine vor der Alice Salomon Hochschule gesprüht werden. Der Studiengang, zu dem ich als Dozentin gehöre (Biografisches und Kreatives Schreiben), könnte dafür die Schirmherrschaft und Verantwortung übernehmen.

Quellen und Weiterlesen:
Beauvoir, Simone de (1980, Original: 1949): Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau. Reinbek: Rowohlt
Frauen- und Gleichstellungsbüro der Leuphana Universität Lüneburg (2012): Leitfaden: Gendergerechte Sprache an der Leuphana. Abrufbar hier.
Horst, Claire (2017): Alle Geschichten (er)zählen – Aktivierendes und kreatives Schreiben gegen Diskriminierung. Opladen/Berlin/Toronto: Verlag Barbara Budrich
Lockhart, Elisabeth / Nazarkiewicz, Kirsten / Sieger, Elke (Hg.) (2000): Feministische Wissenschaftskritik. Die Methode ist die Gretchenfrage. Frankfurt/Main: Mitteilungen des Zentrums für Frauenstudien und die Erforschung der Geschlechterverhältnisse Johann Wolfgang Goethe-Universität
Meininger, André / Baumann, Antje (2017): Die Teufelin steckt im Detail. Zur Debatte um Sprache und Gender. Berlin: Kulturverlag Kadmos
Pusch, Luise (2015): Liebe PCs! Wie denn nun? Generisches Femininum, Binnen-I, Unterstrich oder Genderstern? In: EMMA Nr. 1 (318) Januar/Februar 2015: 74–75
Scheu, Ursula (1977): Wir werden nicht als Mädchen geboren, wir werden dazu gemacht. Zur frühkindlichen Erziehung in unserer Gesellschaft. Frankfurt/Main: Fischer


18. Dezember 2017

Ich werde die Zunge wetzen

Ein automatischer Text zur Lage

Am letzten Abend meines Jahreskurses Kreatives Schreiben letzten Dienstag floss (nach dem Impuls „Zufällt, was reif ist“ von Christa Schyboll) ein automatischer Text aus mir heraus. Er eignet sich als Facette (m)eines Jahresrückblicks.
„[...] Es herrscht Bitternis. Und in der Ödnis wachsen neue Rosen, die niemand besingt, weil niemand vorbeikommt. Nur die Kamele, die aber nicht singen, sie haben das Singen verlernt wie die Menschen, die als politische Gefangene in Erdogans und anderen Knästen ... Und anderntags gibt es Grünkohl, als wäre nichts geschehen. Durch den Briefschlitz ins Herz des Schreckens blicken und allenfalls ein Stück Käse dabei zerkauen. Maoam für vorbeiflitzende Kinder. Das Leben der Anderen findet in der Unterwelt statt. Statthaft ist das nicht. Unbedingt singen wir das Lied von der Erde, um nicht zu verzweifeln vom Plastikmüll in den Biotonnen. Es ist doch ein Bild des Jammers und der Ignoranz. Ein Akt der Dummheit, das Volk zeigt sich, die Masken wurden heruntergerissen. Dabei geht es nur um irrationale Ängste, dass es bald keine Würstchen mit Kartoffelsalat mehr am Heiligabend gibt, sondern Souvlaki oder Döner oder Pekingente, am schlimmsten sind die Veganisten für den Mitläufer, da schwillst nämlich nicht nur den Lobbyisten der Kamm. Am Skattisch, da tobt der gerechte Zorn. Und all die Zacken, die schon aus den Kronen gebrochen sind, reißen sich die Ausländer unter den Nagel, dass aber die die Schwulen, na ja, auch unter Hitler war nicht alles nur ... Die Anderen, die Fluten, die Sintfluten, die gerechten Strafen, die Mauern und Abgründe. Und ich stehe am Rand und taumele. All diese selbstgerechte Dummheit und Gartenzaunmentalität. Ich werde die Zunge wetzen und das Menschen vernichtende Toleranzgebot zerfetzen. In Sachen ,Deutschland zuerst’ ist nicht mit mir zu rechnen.“


27. November 2017

Kollegialer Austausch

Nachlese einer kleinen Tagung

Acht Kolleginnen, acht Facetten des Schreibdidaktischen. Zwei arbeiten im therapeutischen Bereich, drei in der Erwachsenenbildung (und zusätzlich als Journalistin oder als Hochschullehrerin), eine in einer Gesamtschule, eine in der AutorInnenförderung und eine an einem hochschulischen Schreibzentrum. Eingeladen zu dieser vierten Tagung des Netzwerks Kreatives Schreiben Nordhessen/Südniedersachsen hatte ich KollegInnen aus allen Domänen des Kreativen Schreibens. Und dieses Mal ist insbesondere das Konzept „aus allen Domänen“ wunderbar aufgegangen – sodass meine Enttäuschung über die recht geringe Beteiligung sich schnell verflüchtigte. Ein reicher Tag wurde mir geschenkt.
In der Vorstellungsrunde verrieten wir uns alle neben unseren aktuellen Themen und Fragen unsere derzeitige Lieblings-Übung. Hier sind einige Lieblings-Übungen, die sich tatsächlich für viele Schreibgruppenphasen in allen Domänen eignen oder für die eigene Arbeit modifiziert werden können:

  • Listentexte schreiben, auch serielle Texte oder solche, die nur aus Fragen bestehen
  • Lostöpfe füllen (z. B. mit Name, Ort, Begebenheit)
  • Innere Monologe schreiben
  • Fokussiertes Freewriting
  • Anagramme aus dem eigenen Namen bilden vertexten
  • Inspiration durch Gedichte in unbekannten Sprachen
  • 13 Arten, eine Amsel zu betrachten (oder was auch immer, siehe Blogeintrag vom 24. Juli 2017)

In zwei Kleingruppenphasen bearbeiteten wir anschließend vier Themen:

  1. Gibt es eine Zauberformel für TeilnehmerInnen-Akquise?
  2. Wie kommt ihr an Übungen/Methoden für eure Schreibgruppen?
  3. Welche Übungen eignen sich für die Probleme des Anfangens (von akademisch-wissenschaftlichen Texten)?
  4. Wie lässt sich ein Konzept entwerfen für die Implementierung des Kreativen Schreibens an der Schule – jenseits der Nische AG?

Ein wunderbarer Austauschtag! Auch für mich. Denn was ich am meisten vermisse in meiner Arbeit als Schreibpädagogin, ist der kollegiale fachliche Austausch!

Die nächste Tagung ist bereits terminiert. Sie wird am 19. November 2018 stattfinden, wieder in Kaufungen. Das Netzwerk bietet außer der Möglichkeit zum kollegialen Austausch dreimal im Jahr ein offenes Schreibcafé zu wechselnden Themen an; das nächste leitet Kollegin Maria Knissel am 25. Januar 2018 (19 Uhr, Café am Bebelplatz, Kassel) zum Thema Anfänge.


20. November 2017

Warum es läuft und warum nicht

Coaching-Erlebnisse 1

Eine Hausarbeit ist zu schreiben. Als letzter Teil ist gefordert, die eigene Rolle als pädagogische Fachkraft in einem heilpädagogischen Arbeitsfeld zu skizzieren. Mein Coachee macht sich eine halbe Stunde lang handschriftlich Stichpunkte, setzt sich an den Computer und schreibt in einer Stunde diesen Teil ,runter’. Ich lese die Seite und sage nur: Wow!
Später frage ich mich: Warum hat das so reibungslos, so stockungslos, so ohne genervtes oder verzeifeltes Stöhnen und Stift-Zerkauen, wahlweise Kopfkratzen und prokrastinierende Gartenarbeit geklappt? Ich gebe diese Frage an den Coachee weiter.
Er sagt: mehreres: 1. Wenn ich meine Position beschreiben soll und keine Fremdpositionen einarbeiten muss, dann kann ich das. 2. Wenn ich etwas schreibe, worüber ich mir schon oft Gedanken gemacht habe und was ich schon in der Praxis selbst erfahren habe, dann kann ich das strukturieren und formulieren. 3. Wenn mich etwas interessiert, dann bin ich sogar instrinsich motivierter, was das Schreiben betrifft.
Ich denke: Genau, er weiß es doch. Und: So ist es doch. Und: Ist es denn nicht genau das, was sozialpädagogische praxisrelevante Wissenschaft will – dass man etwas so lange durchdenkt und durchlebt, dass man Theorie und Praxis vermittelt, um schließlich eine eigene Position zu entwickeln, die es einer/m auch erlaubt, das eigene Handeln reflektierend immer wieder zu überprüfen, die Position also im Zusammenklang von Denken und Handeln im Resonanzraum des Arbeitsfeldes weiterzuentwickeln?

Zum Weiterdenken empfehle ich die Lektüre des folgenden Aufsatzes:
Girgensohn, Katrin (2008): Schreiben als spreche man nicht selbst. Über die Schwierigkeiten von Studierenden, sich in Bezug zu ihren Schreibaufgaben zu setzen. In: Rothe, M. / Schröder, H. (Hg.), Stil, Stilbruch, Tabu. Stilerfahrung nach der Rhetorik; eine Bilanz (Vol. Semiotik der Kultur). Berlin/Münster: LitVerlag: 195–211


10. Juli 2017

Wider den Genderhass

Argumente gegen rechtspopulistische und antifeministische Positionen

In der Kasseler Frauenzeitschrift K(r)ampfader (II. Quartal 2017) las ich einen Text, der mich erschreckte und begeisterte und überzeugte und den ich deshalb in die Netzwelt stellen möchte. Der Text der Soziologiestudentin Rebekka Blum heißt „Angst um die Vormachtstellung. Antifeminismus und Genderhass sind ein Bindeglied zum Rechtspopulismus“.
Der Text ist zuerst erschienen in iz3w Nr. 359, März/April 2017 (www.iz3w.org/zeitschrift/ ausgaben/359_rechtspopulismus), herausgegeben vom informationszentrum dritte welt in Freiburg. (Die iz3w erscheint seit 1970 und ist eine der ältesten unabhängigen ent­wick­lungspolitischen Zeitschriften in Deutschland.)
Gestern schrieb Susanna Naumann, eine meiner Studentinnen an der Uni Kassel: „Alle Menschen sollten Feministinnen und Fe­mi­nisten sein.“ Und genau darum geht es. Und vielleicht könnte ja eine Aktion sinnvoll sein, bei der Frauen und Männer schreiben, warum sie FeministInnen sind oder den Feminismus für mindestens genauso nötig halten wir vor 40 Jahren.


3. Juli 2017

Das ß jetzt auch in groß!

Alte Fragen und neue Freude

Och, nun, was soll man sich über so etwas groß (GROSS geht ja jetzt nicht mehr) aufregen oder was soll man sich darüber auslassen? Also nur ein paar Wörterchen. Zum Aufregen (wie es viele der Menschen, die ich am vergangenen Wochenende traf, taten) finde ich an der neuen Erfindung nichts.
Dass das ß nicht abgeschafft worden ist, fand ich gut, damals bei der letzten Rechtschreibreform. Dass es das ß nicht als Großbuchstaben gab, hat mich schon als Kind irritiert, musste ich doch dann Straße falsch schreiben, schrieb ich es in Großbuchstaben. Irritierend, dass die Erwachsenen offensichtlich da etwas übersehen hatten. Wer konnte dafür verantwortlich gemacht werden? Die befragten Lehrkräfte schüttelten die Köpfe, zuckten mit den Schultern. Als ich dann selbst erwachsen war, hatte ich mich daran gewöhnt. Die Regeln kannte ich, ich wendete sie automatisch an, also: freier Platz im Gehirn für andere Fragen.
Und dann vollkommen unerwartet, mitten im Jahr 2017 (am 29. 6.), in meinem 57. Lebensjahr, knapp 50 Jahre nach meinen Irritationen, haben sich irgendwelche Erwachsenen plötzlich besonnen und diesen merkwürdigerweise vollkommen deutschen (und österreichischen) Gegenstand, das ß, auch als Großbuchstaben erfunden. Das nahm ich dann auch zum Anlass, mal in die Historie zu schauen – und siehe da, schon 1879 gab es in der Fachzeitschrift Journal für Buchdruckerkunst zum ersten Mal den Vorschlag, auch ein großes ß einzuführen; und 1925 wurde die Notwendigkeit, diesen Buchstaben zu kreieren, im Duden genannt. Gedauert hat es dann noch einmal 92 Jahre bis zur Einführung (vgl. wikipedia.org/wiki/Großes_ß).
Überzeugend ist das grafische Ergebnis keinesfalls, aber da kann man ja noch was machen, eine Schriftenentwicklerin vielleicht, die sich als Grundschülerin die gleichen Fragen stellte wie ich. Aber dass es das ß jetzt als Großbuchstaben gibt, ist meines Erachtens eine großartige Sache. Ich freue mich, kein Wort mehr falsch schreiben zu müssen. Wie der neue Buchstabe in meinen Computer kommt, muss ich noch herausfinden ...


26. Juni 2017

Wie Schreiben passiert

Juli Zeh: Grimm-Gastprofessorin 2017

„Sie versteht es, politisches Engagement mit literarischer Finesse zu verbinden.“ Stefan Greif, der Professor für Literaturwissenschaft sagte das am 20. Juni über Juli Zeh in seiner kurzen Einführung zur Vorlesung der Schriftstellerin, die in diesem Jahr die Grimm-Gastprofessur des Instituts für Germanistik an der Universität Kassel inne hatte. Sie schreibe gar keine politischen Romane und stehe immer noch ratlos und glücklich vor dem, was Literatur ausmacht, sagte wenig später Juli Zeh. Der Abend versprach spannend zu werden. Und das wurde er für rund 400 Zuhörende im großen Hörsaal an der Moritzstraße.
Spannend, witzig und geistreich schlug Juli Zeh den Bogen ihres literarischen Schaffens von ihrem ersten Roman, den sie mit zehn schrieb und unter den Dielenbrettern unter ihrem Kinderzimmerfußboden versteckte, bis zu ihrem 2016 erschienenen Roman Unterleuten (Luchterhand 2016) der das Universum eines brandenburgischen Dorfes mit all seinen Individualuniversen einzufangen versucht. Sie erzählte anderthalb Stunden lang über ihr Schreiben und über das, was sie eigentlich immer vorrangig zu tun hatte, während sie ihre Romane schrieb: das erste und das zweite juristische Staatsexamen bestehen, Kinder gebären und versorgen usw. Schreiben, Literatur sei nichts, was sie mache, schon gar nicht unter (Auftrags-)Druck; es passiere, und es gelinge, „wenn man sich gerade nicht anstrengt“ (Nachtschichten allerdings lassen sich dann nicht verhindern).
Juli Zeh sprach mir aus der Schreibpädagogin-Seele. Wenn meine SchreibschülerInnen etwas unbedingt wollen, dann kommt meist eher etwas Verkrampftes, etwas Gewolltes eben, heraus; wenn sie sich aber erlauben, einfach zu schreiben, etwas geschehen zu lassen, dann entstehen oft ganz besondere Stücke – das zeigend, was bewegt, wo echte Fragen sind, was so vielleicht auch noch nie jemand geschrieben hat.
Eine Poetik wolle und könne sie nicht bieten („Poetik ist das, was Autoren erfinden, wenn sie zu Poetikvorlesungen eingeladen werden“), sie tue das, was alle Menschen tun, was also menschlich zu nennen ist: Wir aktivieren die erzählerische Instanz in uns und bilden Narrationen, um die uns überwältigende und überfordernde Überfülle in ein Ordnungssystem zu bringen. Also: „Wir sind alle Ich-Erzähler.“ Und das sind wir auch, wenn wir nicht in der 1. Person singular erzählen. Das sind wir, wenn wir die Weltendinge, die uns in Unruhe verstzen, die uns Rästel aufgeben und drängende Fragen aufwerfen, erzählend versuchen zu fassen. Juli Zeh versuchte das in bisher sechs veröffentlichten Romanen sowie Theaterstücken und Kurzgeschichten.
Mich hat besonders ihr zweiter Roman Spieltrieb (Schöffling & Co. 2004) gefesselt, den ich tatsächlich als überaus politisch empfinde, greift er doch gesellschaftliche Phänomene auf, die sich in den 13 Jahren seit Erscheinen des Romans massiv intensiviert haben: Manipulation, Missbrauch, Lügen, Mobbing, Kälte und massive moralische Unsicherheit an Schulen. Und einen politischen Anspruch scheint Juli Zeh doch auch zu haben, denn in ihrem Abschluss-Statement kritisierte sie überaus scharf diejenigen, die einfache Lösungen wieder salonfähig machen, und pädierte für die Multiperspektivität als Metapher: Davon auszugehen, dass die Gesellschaft aus sieben Milliarden Einzelperspektiven bestehe, hindere das Individuum daran, aus seiner Ich-Perspektive heraus ein Recht auf Macht abzuleiten – und zu hassen. Wie auch sonst sollte man leben unter Leuten?


17. April 2017

Ostereier?

Drei Statt-Oster-Eier-Zitate

  1. „Mit sich beginnen, aber nicht bei sich enden, bei sich anfangen, aber sich nicht selbst zum Ziel haben.“ (Martin Buber)
  2. „Die Freiheit, etwas anders zu glauben, etwas anders auszusehen, etwas anders zu lieben, die Trauer, aus einer bedrohten oder versehrten Gegend zu stammen, den Schmerz der bitteren Gewalterfahrung eines bestimmten Wirs – und die Sehnsucht, schreibend eben all diese Zugehörigkeiten zu überschreiten, die Codes und Kreise in Frage zu stellen und zu öffnen, die Perspektiven zu vervielfältigen und immer wieder ein universales Wir zu verteidigen.“ (Carolin Emcke, aus der Rede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandles 2016)
  3. „Niemand hungert, weil wir zu viel essen. Sondern weil wir zu wenig denken.“ (anonym)


30. Januar 2017

Hinschauen ...

... und nicht schweigen

„Ihr tragt keine Schuld für das, was passiert ist, aber ihr macht euch schuldig, wenn es euch nicht interessiert.“ Esther Bejaranos Satz passt auf so vieles, was in der Welt passiert. Da muss man gar nur nicht Trump, die AfD oder Diktaturen in den Blick nehmen. Auch in ein armes Land zu reisen und in einem 5-Sterne-Hotel zu logieren und die Augen vor den 500 Meter weiter liegenden Slums zu verschließen, heißt in diesem Sinne, sich schuldig zu machen.
Esther Bejarano (geb. Loewy, * 15. 12. 1924 in Saarlouis) ist Überlebende des Vernichtungslagers Auschwitz. Dort spielte sie im Mädchenorchester. Heute engagiert sie sich gegen rechtsradikale Gewalt und Propaganda.


2. Januar 2017

Freibrief, Entlastung und Verantwortung

Quo vadis?

„Wissenschaft ist der augenblicklich geltende Irrtum.“ Das schrieb der philosophische Anthropologe und Soziologe Arnold Gehlen (1904–1976), der auch Gegenspieler von Adorno war, was hier aber jetzt nicht von Belang sein soll. Das Zitierte ist von Belang. Für mich. Ich kann es als Freibrief verstehen, alles zu glauben, mich nicht entscheiden zu können oder zu müssen. Ich kann es auch als Entlastung verstehen, nicht glauben zu müssen, alles jetzt und sofort und für alle Ewigkeit erkennen zu müssen (was mir während des Schreibens meines Fachbuchs Schreiben wir! dann und wann arge Schwierigkeiten bereitete), gar niemals alles erkennen zu können. Ich kann es schließlich auch als Aufruf zur Verantwortung verstehen, immer noch einmal und immer wieder noch einmal hinzuschauen, die von mir konstruierte Wirklichkeit mit einzubeziehen, den unvermeidbaren Irrtum, die unvermeidbare Vorläufigkeit oder gar die unumgängliche Beschränktheit aller Erkenntnisse mir zu vergegenwärtigen. Um daraus eine freundlich-kritische Hermeneutik abzuleiten. Um aber daraus auch den Mut abzuleiten, Fragen zu stellen und zu sagen: „So will ich leben, so will ich nicht leben. Das toleriere ich, das toleriere ich nicht.“
Wissenschaft ist nach meinem Verständnis gegenwärtiges Hinschauen, ist eingebettet in historische und Herrschaftsverhältnisse, ist Ideologiekritik, ist Übernehmen von Verantwortung, ist immer subjektiv an mich als Forschende und Denkende und Handelnde gebunden. Und wenn ich immer einkalkuliere, dass meine Erkenntnisse auch Irrtümer sein können, wird es zwar nicht leichter, aber menschlicher, das Denken und Handeln, das Forschen, das Leben. In diesem Sinne: Ein gutes Jahr 2017.


7. November 2016

Carolin Emcke und Durs Grünbein

im Literarischen Zentrum in Göttingen

Das wird keine Nachbesprechung der Veranstaltung Gegen den Hass am 4. 11., kein Bericht, keine Kritik, keine Einordnung, in was auch immer. Das wird eine persönliche Nach-Lese. Ich habe aufgelesen, Früchte, die aus den beiden wuchsen, die mir vor die Füße rollten, die ich auf-lesen und mit nach Hause nehmen durfte.
Zu Pegida/AfD und den Montagsdemonstrationen in Dresden und anderswo sagte Carolin Emcke: „Nicht alles, was sich bewegt, ist gerecht. [...] Nicht jede soziale Bewegung ist emanzipatorisch.“ Wie wahr! – Zum autobiografischen Schreiben sagte sie: Sich schreibend zu erinnern, sei ein erster Akt von Befreiung, weil man so möglicherweise erst einmal des Beeinträchtigenden habhaft werden könne. Wie wahr! – Auf die Frage, was denn helfe, sagte sie: Ästhetische Antworten auf die Verlockung des Stammtischniveaus, den So der Entfremdung seien zum einen die Zartheit der Wahrnehmung, zum anderen die Verlangsamung des Wahrnehmens und des Urteils; man müsse wahrnehmen, an welchen Stellen man sich auch anders entscheiden kann. Wie wahr! – Die Erkenntnis, die ich vor allem mitnehme, ist die: Manchmal ist es schon genug (oder es wäre genug, wenn mehr es sich trauen würden), einfach nur zu fragen, ob im Privaten, in der Schreibwerkstatt, in der Straßenbahn, beim Sport, im Café und anderswo: Ist das wirklich so? Wer sagt das? Woher kommt dieses Wort?
An dieser Stelle möchte ich auch empfehlen, die Dankesrede zu lesen, die Carolin Emcke anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deustchen Buchhandels am 23. 10. 2016 in der Frankfurter Paulskirche gehalten hat
Von Durs Grünbein will ich hier poetologische Sätze zitieren: „In der Poesie ist das Wort im Traumzustand. [...] Gedichteschreiben ist die Möglichkeit, Abstand zu sich selbst zu bekommen, es geht gerade nicht, wie immer behauptet wird, um das Ich. [...] Etwas in mir schreibt ein Gedicht, ich bin es und ich bin es nicht.“ Genau!


26. September 2016

Mein Buch in der Welt

Was ich beim nächsten Mal anders machen würde

Mein Buch – Schreiben wir! Eine Schreibgruppenpädagogik (ISBN 978-3-8340-1652-2) – ist fertig und stößt auf Interesse. Es gab schon einige positive Rückmeldungen. Ich freue mich, es in die Welt tragen zu können. Noch mehr freue ich mich, wenn es Menschen erfasst, berührt, beflügelt, die Schreibgruppen leiten.
Ich muss aber mal ein wenig stöhnend reflektieren über den Schreibprozess ... Wenn ich noch einmal anfinge, sollte ich Folgendes vermeiden:
1. Ich sollte als Grundlagentext nicht einen nehmen, den ich für einen ganz anderen Zusammenhang geschrieben habe. Noch bis zum Ende war ich damit beschäftigt, die (sprachlichen) Ebenen zu durchdenken, zu verändern, mich zu ärgern, dass ich mal nur darstelle, mal meine Tipps verbrate und mal diskutiere, ohne dass es klar ist, an welcher Stelle ich was warum tue. Am Ende bin ich zufrieden, aber es wäre viel Zeit einzusparen gewesen, hätte ich diesen Grundlagentext als gedankliches Gerüst genommen, eine Gliederung für mein Buch erstellt und alles neu formuliert – zumal ich deutlich weniger Zeichen zur Verfügung hatte.
2. Ich sollte viel früher andere Menschen einbeziehen, sollte TestleserInnen bitten, einen kritischen Blick auf mein Manuskript zu werfen. Die Kritik meiner fünf TestleserInnen konnte ich verstehen und wertschätzen, zum großen Teil hat sie sich sogar mit meinen eigenen Zweifeln oder Fragen gedeckt. Aber ich bin der irrigen Meinung aufgesessen, ich könne erst etwas herausgeben, wenn es so gut wie fertig ist (als Schreibprozessbegleiterin sollte ich es eigentlich besser wissen). So ist durch das späte Einbeziehen ist dann die Endüberarbeitung noch einmal extrem aufwändig geworden.


18. Juli 2016

Brauche ich das ...

... oder kann das weg?

Zum aktuellen Pokémon Go-Hype könnte ich viel sagen, ich sage aber nur mit Sokrates:
„Was es nicht alles gibt, was ich nicht brauche.“ (Was das Pendant zum Online-Monsterspiel im antiken Griechenland war, ist mir leider nicht bekannt.)


23. Mai 2016

Behindert oder behindernd

Ein Kommentar

Zweimal im Jahr erscheint die Zeitschrift Facetten, die auf 20 Seiten über Neuigkeiten, Erfolge und ganz Alltägliches aus der Sozialgruppe Kassel e.V. bzw. aus ihren fünf Zweckbetrieben informiert (und die ich als Redakteurin mitbetreue). In der Nummer 30, die am 19. 5. erschienen ist, ist ein Text über den Begriff der Behinderung veröffentlicht, den ich im Folgenden dokumentieren möchte:

Dieser Text behindert!

Der Begriff der Behinderung heute und morgen

Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 des SGB IX und § 3 des Behinderten-Gleichstellungsgesetzes des Bundes (BGG) sind Menschen behindert, „wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist“. Ergibt eine fachliche, oft medizinische Einschätzung als Ergebnis, dass ein Mensch im Sinne dieser Definition behindert ist, so ist er im Sinne des SGB IX leistungsberechtigt und darf z. B. in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung eine Rehabilitationsmaßnahme in Anspruch nehmen.
Maßgeblich für die Anerkennung einer Behinderung ist bis heute eine medizinische Diagnose oder ein Sachverständigen-Gutachten. Dabei stützt sich die medizinische Diagnose auf die sogenannte internationale Klassifikation einer Dysfunktion bzw. Funktionsstörung (engl. ICD).
Mit der Einführung des Bundesteilhabegesetzes und der damit verbundenen Umsetzung der UN-BRK wird auch eine neue Definition von Behinderung eingeführt. Diese neue Erklärung stützt sich auf die internationale Klassifikation einer Funktion (engl. ICF). Grundlage ist dabei nicht mehr das Vorliegen einer medizinischen Einschränkung, vielmehr entsteht die Behinderung durch Faktoren in der Umwelt. Diese Faktoren behindern die Gesundheit funktional, daher auch die Bezeichnung „Funktionale Gesundheit“. Wird ein Mensch von einem dieser Faktoren behindert, so entsteht eine Teilhabebeschränkung. Ist diese Teilhabebeschränkung erheblich, so hat dieser Mensch das Recht auf eine individuelle Leistung, die diese Teilhabebeschränkung aufhebt.
Haben Sie den Text verstanden? Kennen Sie alle hier genannten Begriffe? Nein? dann behindert Sie dieser Text! Sie benötigen Hilfe, Sie brauchen eine Übersetzung. Genau darin besteht der Unterschied! Nicht das Vorliegen einer nachweislichen Lernbehinderung, sondern der viel zu kompliziert verfasste Text ist die Ursache für die Behinderung. Eine Lösung ist, den Text in sogenannter Leichter Sprache zu verfassen, oder jemand erklärt Ihnen alles ganz einfach.

Versuchen Sie doch einmal, diesen Text in Leichter Sprache zu verfassen, und senden Sie uns ihre Vorschläge. Die beste ,Übersetzung’ wird in der nächsten Ausgabe abgedruckt. Ihre Zuschriften senden Sie an die Redaktion.
Mike Alband-Nau (Einrichtungsleitung der Kasseler Werkstatt für Menschen mit Behinderung)

SGB IX: 9. Buch des Sozialgesetzbuches: Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen
ICD: International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems
ICF: International Classification of Functioning, Disability and Health
UN-BRK: Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen


9. Mai 2016

Kürzestgeschichten

Passendes Genre für die Postmoderne?

Möglicherweise ist es etwas idealistisch oder naiv zu denken, was Jan Röhmert in der FAZ zu den Kürzestgeschichten von Klaus Johannes Thies formulierte: „Wie gut, dass es diese Prosa über gar nichts weiter gibt – sie enthält alles, was zählt.“ Möglicherweise sehnen wir uns nach den allerkürzesten Geschichten, die genau eine Sache in den Blick nehmen, um sich in der Komplexität der Welt auszurichten auf eben jenes Detail, das die Kürzestgeschichte, wie mit einem Spot angestrahlt, scharf hervorhebt. Möglicherweise ist es auch das, dass der Mensch in der Postmoderne (wie kurioserweise unsere Zeit bezeichnet wird – man fragt sich doch, was denn wohl danach noch kommen soll) weder Zeit noch Muße hat, sich auf Epen, auf Tausendseitenromane, auf komplexe Weltengeschichten einzulassen (obwohl es für das Gegenteil auch Beweise gibt, wie etwa Harry Potter) und die schnelle Unterhaltung, die schnelle Perspektiveneinstellung, die schnelle Welterklärung sucht.
Möglicherweise aber bleibt den heutigen GeschichtenschreiberInnen gar nichts Anderes, als zu versuchen, Ausschnitte des Universums zu betrachten, möglichst genau zu betrachten, zu fassen, auf den Punkt zu bringen in ihrer verwirrenden Vielschichtigkeit und kaleidoskopartigen Zerbrechlichkeit, weil mehr erfassen zu wollen vermessen wäre.
Auf jeden Fall aber vermögen Kürzestgeschichten, sind sie denn so gestaltet, dass sie nicht holzschnittartig zu simplifizieren suchen, tatsächlich alles – wie ein Tausendseitenroman.
Ich möchte hier ein paar dieser modernen Kürzestgeschichten, die mich faszinieren, zitieren. Die kürzeste mir bekannte ist allerdings schon vergleichsweise alt, die stammt aus der Feder von Ernest Hemingway: For sale. Baby shoes. Never worn.

Franz Hohler: Begegnung (aus: 111 einseitige Geschichten, Luchterhand 1981)
Da ging einmal ein Mann ins Büro und traf unterwegs einen anderen, der soeben ein französisches Weißbrot gekauft hatte und sich auf dem Heimweg befand.
Das ist eigentlich alles.

Ana Maria Matute: Das Mädchen, das nirgendwo mehr war (aus: Spanische Kürzestgeschichten, dtv 1994)
Drinnen im Schrank roch es nach Kampher, nach gepressten Blumen – Asche in Scheibchen. Nach weißer kalter Winterwäsche. Drinnen im Schrank hütete eine Schachtel kleine rote Mädchen Schuhe mit Troddeln. Daneben lag in Seidenpapier und Naphthalin die große Puppe mit den dicken harten Wangen, die man nicht küssen konnte. In den runden starren Augen aus blauem Glas spiegelten sich die Lampe, die Zimmerdecke, der Schachteldeckel, und früher auch die Kronen der Parkbäume. Die Puppe, die kleinen Schuhe gehörten dem Mädchen. Aber in diesem Zimmer war es nicht zu sehen. Es blickte auch nicht aus dem Spiegel über der Kommode. Auch nicht aus dem gelben verrunzelten Gesicht, das sich die Zunge anschaute und Lockenwickler ins Haar drehte. Das Mädchen in diesem Zimmer war nicht gestorben, aber es war nirgendwo mehr.

Lydia Davis: Kontingenz (versus Notwendigkeit) 2: Im Urlaub (aus: Kanns nicht und wills nicht. Stories, Literaturverlag Droschl 2014)
Er könnte mein Mann sein.
Aber er ist nicht mein Mann.
Er ist ihr Mann.
Und so macht er ein Foto von ihr (und nicht von mir) in ihrer geblümten Strandgarderobe vor der alten Festung.

Camille Esses: Erdnussbutter (aus: Überraschungen. Die besten Sekundenstorys, Insel Verlag 2015)
Er war dagegen allergisch. Sie tat so, als wüsste sie es nicht.

Klaus Johannes Thies: Mit Stehlampe (1) (aus: Unsichtbare Übungen. 123 Phantasien, edition AZUR 2015)
Die Stehlampe ist noch an, brennt noch ein bisschen nach. Die neuen Frühjahrserscheinungen werden von HERKUNFT und HEIMAT erzählen und von meinem Vater, der sagt: „Ich will noch mal ans Meer – ein letztes Mal das Meer sehen.“ Das wäre ein schöner Satz für meinen Vater gewesen. Hatte die ersten zwei Worte auch schon formuliert, kam nur nicht dazu, sie auszusprechen. Spielte mit den Knöpfen und fühlte sich gleich viel besser, weil alles andere kannte er bereits. Konnte alle Fragen beantworten, blätterte die Bilder durch. Und es war schön, einfach vor der Stehlampe stehenzubleiben.
Zwei Reclam-Hefte sind (zusätzlich zum Bändchen Überraschungen) ein Fundus für Kürzestgeschichten: 9569 und 15064.


4. April 2016

Yogisches Schreiben

Ein Versuch, Praxis zu fassen

Den Begriff Yogisches Schreiben gibt es in der Literatur nicht. Aus meiner Erfahrung im Schreiben und – deutlich geringer – im Yoga, aber vor allem aus dem Zusammendenken dem Nacheinander-Praktizieren der beiden Formen des Seins habe ich folgendes Verständnis entwickelt:

Yogisches Schreiben ist (oder kann sein)
  • achtsames Schreiben, das (die Sinne) für das Innen und das Außen öffnet
  • das Schreiben in Formen (zur Stabilisierung und Grenzerfahrung)
  • erinnerndes Schreiben (um unterscheiden zu können zwischen Damals und Jetzt)
  • reflektierendes Schreiben (z. B. zu einer Lebensfrage)
  • entlastendes Schreiben (,Blödelerlaubnis’)
  • Abschreiben (z. B. eines philosophischen Textes)
  • Rezitation (fremder Texte, aber auch das In-den-Raum-Stellen der eigenen Stimme, der eigenen Texte)

Yogisches Schreiben fördert die vom Yoga-Lehrer Jon Kabat-Zinn (Zur Besinnung kommen, Arbor Verlag 2005) aufgeführten inneren Einstellungen aus der Achtsamkeitspraxis: Nicht-Beurteilung, Geduld, Anfänger-Haltung (Beginner’s Mind), Vertrauen, Vernachlässigung einer Zielorientierung oder ,Projektmentalität’, Akzeptanz, Loslassen-Können.
In meine Unterrichtspraxis als Schreibpädagogin fließen diese Formen des von mir so benannten Yogischen Schreibens seit je ein. Schön ist es, nach und nach immer mehr Implizites, das ,automatisch’ aus mir und im Kontakt mit Anderen entstanden ist, mir bewusst, also explizit zu machen und gezielter einsetzen zu können.


13. Oktober 2015

Verantwortlich?

Literatur in Krisenzeiten

Viele meiner Bekannten engagieren sich mehr oder zum ersten Mal in ihrem Leben für ihnen nicht bekannte Menschen, im Haus meiner Schwester und meines Schwagers lebt seit einigen Wochen ein junger Mann aus Syrien, eine Freundin mit Job und vier Kindern schläft schlecht, weil sie so ein schlechtes Gewissen hat, dass sie niemanden aufnimmt ... So viele Menschen sind gekommen, die Hilfe brauchen, die ja nicht aus Lust und Laune weggehen aus Syrien, aus Afghanistan, aus Eritrea, aus dem Sudan ... Die aktuelle gesellschaftliche Situation, die täglichen Gespräche, Gedanken, Handlungen, Nachrichten sind geprägt vom Weggehen und Nicht-Ankommen, vom Zurücklassen und von Perspektivlosigkeiten – und so viele drehen sich nicht weg, um ihr bequemes Leben weiterzuleben (was ja tatsächlich immer noch locker geht).
Wirkt sich diese Gesamtsituation auch auf das Schreiben, auf die Literatur, den Literaturbetrieb aus?
Dass sich Politisches oder Öffentliches sowie Privates oder Nicht-Öffentliches dialektisch durchdringen, dass das Private politisch ist und das Politische das Private prägt – eine spätestens seit der Nach-68er-Frauenbewegung nicht mehr zu leugnende Wahrheit. Wenn dann der Literaturnobelpreis an eine Journalistin geht (die Weißrussin, Weltenbürgerin und literarische Chronistin Swetlana Alexijewitsch) und diverse politisch engagierte Bücher auf die Longlist zum Deutschen Buchpreis geraten, dann kann man vermuten, wie es DIE ZEIT tut (Beilage zur Frankfurter Buchmesse No. 41, Oktober 2015), dass die aktuelle gesellschaftliche Situation Literatur Produzierende und Literatur Kritisierende und schließlich in Folge Lesende stark beeinflusst. Sogar dahingehend, dass von Literatur plötzlich Engagement, Positionierung, Aufklärung, Utopien verlangt werden. Von den Produzierenden, von den Kritisierenden, von den Lesenden.
In der oben erwähnten Beilage kann man u. a. ein spannendes Gespräch lesen zwischen dem Moderator Ijoma Mangold sowie drei AutorInnen von Werken von eben jener Longlist: Jenny Erpenbeck (gehen, ging, gegangen), Ulrich Peltzer (Das bessere Leben) und Ilija Trojanow (Macht und Widerstand). Ich möchte von allen dreien Passagen zitieren, die mich besonders berührt haben und die zeigen, was Schreiben in Zeiten sein kann, die eine Gesellschaft massiv herausfordern:
Jenny Erpenbeck: „Für mich ist es nicht so, dass ich sage: ,Ich möchte ein politisches Buch schreiben’ oder ,Ich möchte ein historisches Buch schreiben’. Ich habe eigentlich immer beim Mikrokosmos angefangen und bin beim Makrokosmos angekommen, ohne dass ich mich dafür entschieden hätte. Ich finde, es ist vollkommen müßig, was von außen von Schriftstellern ,verlangt’ wird! Das ist eine Sekundärdiskussion. Man schreibt über die Dinge, die einen beschäftigen, die einem widerfahren. Manche Autoren neigen mehr dazu, im Privaten das Politische zu sehen, andere sind politischen Bewegungen mehr ausgesetzt, wieder andere ziehen sich ganz ins Private zurück.“
Ilija Trojanow: „Mal angenommen, die Leser gehen aus dem Roman heraus mit der Vorstellung, alle Grenzen zu öffnen, dann ist ja nichts Schlechtes daran. Denn das ist ja eine der Urfunktionen von Literatur, Gegenentwürfe zu präsentieren. Eine Realität zu imaginieren, die sich unterscheidet von der vermeintlichen Evidenz der herrschenden Verhältnisse. Die Frage ist nur, ob die Erzähltechniken, die reflexiven Ebenen und die zwingend erzählten Biografien die Leser überzeugen von diesem Entwurf. [...] Das sind große Fragen, die wir stellen müssen in Zeiten, in denen die Selbstoptimierung geradezu die einzige Fasson der Weltrettung geworden ist.“
Ulrich Peltzer: „Genau, geht es nur um Selbstoptimierung, haben wir den Mut verloren, für andere zu sprechen? [...] Das Direktorium der Welt, das sich in Hinterzimmern trifft, das gibt es nicht. Aber es gibt Profiteure, und es gibt Leute, die Verantwortung tragen, und es gibt Leute, die gut leben, und solche, die weniger gut leben. Und es gibt Gründe dafür.“


21. September 2015

Schreibstrategien

Wie schreibe ich?

Einfach losschreiben oder erst einen Plan machen – das eine ist nicht besser, klüger, zielführender als das andere. Es ist erstens eine Schreibertypfrage, welche Strategie ich wähle, zweitens eine Frage der Schreibaufgabe, die vielleicht eher zu der einen als zu der anderen Strategie auffordert, und drittens eine Sache der Wirksamkeitserfahrung.
Verschiedene Schreibforscher haben unterschiedliche Kategorien zur Erfassung von Schreibertypen bzw. Schreibstrategien aufgestellt. Sylvie Molitor-Lübbert differenzierte 1985 zwischen drei Herangehensweisen: Top-down-Schreiber, Bottom-up-Schreiber und Misch-Typ. Top-down-Schreibende entwickeln zunächst eine Gliederung und produzieren anhand dieser ihren Text, bei Bottom-up-Schreibenden entsteht die Textstruktur erst während des Schreibens.
Der Linguist Hanspeter Ortner entwickelte im Jahr 2000 aus 6.000 Aussagen von versierten Schreibenden über ihr Vorgehen beim Schreiben längerer Texte ein sehr differenziertes Schreibstrategienmodell, das er ausführt in Schreiben und Denken (Tübingen 2000). Strategie ist für Ortner ein vom Individuum erworbenes „Ablauf- und Organisationsschema“, Schreibstrategien sind „erprobte und bewährte Verfahren der Bewältigung spezifischer Schreibanlässe und potentieller Schreibschwierigkeiten in spezifischen Schreibsituationen“ (S. 351). Er geht davon aus, dass Strategien von den Schreibenden gewählt werden. Die Wahl der Strategie ist abhängig von der Schreibaufgabe, aber auch davon, welche Strategie der Schreiber bisher als erfolgreich erlebt hat. Ortner unterscheidet zehn Schreibstrategien, die Schreibende als Schemata anwenden, um Aufgaben zu bewältigen; sie sind anlassbezogen, erfolgsabhängig und ersetzbar; außerdem werden sie auch kombiniert angewendet:

  1. Nicht-zerlegendes Schreiben: Geschrieben wird vom Typ des Aus-dem-Bauch-heraus-, des Flow-Schreibenden in einem Zug, im Stil des écriture automatique (d. i. der ,reine’ Bottom-up-Typ).
  2. Einen Text zu einer Idee schreiben: Diese Strategie wird vom Typ des Einzigtext-, des Einen-Text-zu-einer-Idee-Schreibenden engewendet.
  3. Schreiben von Textversionen zu einer Idee: Der Typ des Mehrversionenschreibenden, des Versionenneuschreibenden schreibt mehrere Texte zu einer Idee, fügt am Ende Fragmente aus mehreren Versionen zusammen oder wirft alle bis auf eine weg.
  4. Herstellen von Texten über die redaktionelle Arbeit an Vorfassungen: Der Typ des Text-aus-den-Korrekturen-Entwickelnden unterzieht seinen Text mehreren Revisionsschritten, evtl. auch mit Feedback von außen.
  5. Planendes Schreiben: Der Typ des Planers macht vor dem Schreiben einen Plan oder eine Gliederung (Makrostruktur), die er dann schrittweise ausformuliert (d. i. der ,reine’ To-down-Typ).
  6. Einfälle außerhalb eines Textes weiterentwickeln: Beim Typ des Niederschreibenden könnte man sagen, dass er etwas erst nicht-schreibend gären lässt, er arbeitet konzeptuell extralingual und schreibt erst dann den Text nieder.
  7. Schrittweises Vorgehen, der Produktionslogik folgend: Der Typ des Schritt-für-Schritt-Schreibenden sammelt Material, konzipiert, gliedert, formuliert und revidiert Schritt für Schritt und Abschnitt für Abschnitt; diese Strategie wird häufig beim Schreiben wissenschaftlicher Texte angewendet.
  8. Synkretistisch-schrittweises Schreiben: Der Typ des Synkretisten vermischt und/oder verschmilzt einzelne unabhängig voneinander entstehende Textteile, er arbeitet mit zu etwas Neuem verschmelzenden Fragmenten.
  9. Moderat produktzerlegend: Der Typ des Textteilschreibers schreibt Teile des Endprodukts in beliebiger Reihenfolge, vielleicht sogar erst den Schluss.
  10. Schreiben nach dem Puzzle-Prinzip – extrem produktzerlegend: Der Typ des Produktzusammensetzenden arbeitet mit zunächst undefinierten Einzeltexten, die nach und nach zusammengebaut und dabei angepasst werden; diese Strategie wird häufig bei Texten verwendet, die komplexe Denkleistungen verlangen, bei denen am Anfang nicht klar ist, was am Ende herauskommen wird/soll.

6. Juli 2015

Flow – ein Wort-Portrait ...

... und vielleicht eine Liebeserklärung

Vielleicht ist es auch eine Schreibanregung (aus einer solchen ist der folgende Text jedenfalls entstanden). Aber zunächst einmal ist es ein Text, den ich zeigen will und mit dem ich eines meiner Lehr- (und Seins-)Credos zeigen will: Neben PRÄSENZ und FORSCHEN ist FLOW das dritte Prinzip, dem mein Sein als Schreibpädagogin verpflichtet ist. So zeige ich also mein Portrait des FLOW (vom 4. März 2015):

Nein, stöhnen Sie nicht. Oder stöhnen Sie zuerst und dann hören Sie. Ja, es ist ein fremdsprachiges Wesen. Ein englisches, das in Übersee, in den USA, zu voller Blüte kam. Und zudem ist es ein universelles Wesen: FLOW. Wie so viele wesentliche Wesen kommt der Flow schlicht daher, macht kein großes Gewese, und trotzdem nimmt er sofort für sich ein. Als ich ihm das erste Mal begegnete, hatte ich noch nie von ihm gehört, ich kannte seinen Namen nicht, wusste nichts von Aussehen und Charakter – aber ich wurde sofort erfasst von ihm, der sich lautlos angeschlichen und mich in seinen Bann gezogen hatte. Er erfasst mich, zog mich mit sich und ließ mich in unbekannte Höhen fliegen, in noch unbekanntere Tiefen fallen, ich wurde geflutet.
Da ist es, zuerst das F. Fff – wie ein Windhauch sieht er vorn aus, der Flow, wie ein Windhauch hört er sich an, kommt er zuerst daher, manchmal auch als Böe, öfter als Mistral oder als Passat, selten als Tornado oder als Hurrikan. Schon mit dem Fff betört der Flow, reißt fort, wenn nicht ins Glück, so doch ins Selbstvergessene. Und wer will das nicht.
Nun, damit es nicht sofort so beängstigend ist, kommt nach dem F, nach dem Mitreißenden, ein sanftes Lll. Sanft wie la-le-lu, aber auch hier der Sog, den viele schon erlebt haben, als sie als Kinder endlose Reihen von lllllllll auf Schiefertafel oder ins Schulheft setzten. Eingelullt werden, dabei aber wach und klar bleiben, das ist der Yoga-Anteil des Flow.
Und dann folgt das O. Das ein OW ist, ein Laut, ein Wesensteil aus zwei Komponenten. Zuerst das O, der Urlaut des Erstaunens, wir öffnen den Mund, kreisförmig, alles strömt hinein, alles strömt hinaus, die Grenze zwischen Innen und Außen verschwimmt, wir hören auf zu suchen, öffnen uns dem Finden, die Angst vor dem Zufälligen, dem Kontrollverlust schwindet, wir überlassen uns dem O. Und werden getragen von der zweiten Komponente, dem W. Das W, eine Doppelschale oder zwei hängende Brüste – und kann nichts passieren.
Ja, der Flow ist ein universelles Wesen, dem zu begegnen das Leben verändert, ohne Möglichkeit, in den – ich wage zu sagen – tumben Zustand davor zurückzufallen. Und ein solches universelles Wesen braucht einen universellen Namen: englisch, kurz, einfach, unverwechselbar, sich selbst definierend durch Aussehen, Klang und Wirkweise: Flow.
Und weil der Flow ein universelles Wesen ist, ist er auch eine Art Chamäleon, das sich jeder Person so zeigt, wie diese Person es braucht. Jetzt stöhnen Sie nicht mehr, ich höre Sie atmen. Gut.


15. Juni 2015

Paul Maar

Brüder-Grimm-Professor 2015

Normalerweise weiß ich nicht, warum man irgendwelche Leute, deren Bücher man gut findet, unbedingt sehen, hören, anfassen muss; auch das Bitten um Autogramme finde ich irgendwie seltsam. Aber Paul Maar wollte ich hören. Ja, auch wegen des Sams. Aber vor allem, weil der Besuch der Veranstaltungen mit dem Brüder-Grimm-Professor (des Fachbereichs Germanistik an der Uni Kassel) mir ein lieb gewonnenes und bereicherndes Ritual im Frühsommer geworden ist.
So hörte ich also die poetologische Vorlesung Maar und die Märchen des 24. Brüder-Grimm-Professor. Und war ein bisschen enttäuscht. Poetologie bzw. Poetik als „Wissenschaft von Wesen, Gattungen und Formen der Dichtung“ (Gero von Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur) gab es leider nur in geringen Dosen. Las Maar doch von den 60 Minuten, die ihm rund 200 Menschen im Gießhaus lauschten, ca. 45 Minuten aus seinen Werken. Die ich zwar fast alle nicht kannte, aber dazu, sie kennen zu lernen, war ich ja nicht gekommen ...
Seit ich denken bzw. (mich) reflektieren kann, sauge ich das auf, was mich anspricht, was mich zittern, staunen macht. Da kann der Lehrer oder der Unterricht noch so mittelmäßig bis empörend sein – ich finde etwas, das mich weiter- oder anderswohin bringt, das mich beflügelt, begeistert. Und das schaffte auch Paul Maar, da, wo er seine Poetologie skizzierte, deren Wollen man auch als kreativen Umgang mit dem Genre Märchen und Märchenmotiven zusammenfassen könnte. Maar fügt z. B. oft in reale Umgebungen fantastische Wesen ein, die dann einem Menschen aus einer Notlage helfen (so hilft etwa das Sams Herrn Taschenbier, mutiger und selbstbewusster zu werden), er schreibt keine Fantasy-, sondern fantastische Geschichten, da er kein Paralleluniversum entwirft, sondern in der realen Welt bleibt. Maar erzählt auch gern bekannte Geschichten neu, z. B. adaptiert er in Der weiße Wolf das Dschungelbuch und die Ödipussage. Vor allem arbeitet er mit mehreren Blickwinkeln, Berichterstattern, also Wahrheiten, so hat er schon in seinem ersten Kinderbuch Der tätowierte Hund zwei Perspektiven gestaltet (jenseits dessen, dass die Geschichte Anspielungen auf Grimms Hänsel und Gretel enthält).
Ich werde also mal Der tätowierte Hund und Der weiße Wolf lesen. Und versuchen herauszufinden, warum mein Lieblingsmärchen Wilhelm Hauffs Das kalte Herz ist (Paul Maar erklärte, warum seines das vom Eisenhans ist). Umsonst im Gießhaus gewesen? Nein!


1. Juni 2015

OuLiPo II

Warum banale Wortspiele alles andere als banal sind

Während der Segeberger Jahrestagung in Fuldatal hat am 6. März Friedrich Block einen Vortrag gehalten: Kreative Sprachkrisen – Zur Praxis des poetischen Kalküls. Doller Titel. Klasse Vortrag. Spannende Debatte. Warum soll man sich mit dem computergenerierten ,Quatsch’ befassen, was ist der Sinn von mathematisch/mechanistisch anmutenden, banalen Sprachexperimenten? Was also kann uns das, was die Gruppe OuLiPo in den 1960ern angestoßen hat, für die Schreib- und Lehrpraxis bringen? (Das waren jedenfalls meine Fragen.)
Jemand aus dem Publikum (Norbert Kruse?) stellte die Frage, ob wir denn nicht alle fremdgesteuert oder manipuliert seien, ob es nicht illusionär sei anzunehmen, dass wir Sprache in befreiender Form verwenden könnten. Daran knüpfte die Frage an, wie wir uns also einer Sprache bemächtigen können, die das Individuelle zu zeigen vermag, Manipulationen enttarnt, Entfremdung aufhebt, Grenzüberschreitungen ermöglicht. Wie wir uns einer Sprache bemächtigen können, die ein gestaltetes und gestaltendes Sein in der Welt sowie eine offene Gesellschaft ermöglicht.
Am Ende des Vortrags schrieb ich folgende Begriffe auf: DIE ERSCHÜTTERUNG – DIE ERWEITERUNG – DIE ENTGRENZUNG. Ist es nicht genau das, was oulipistische Schreib-Experimente vermögen? Die Automatismen erschüttern, Möglichkeiten jenseits von Zuschreibungen, jenseits des Immer-Schon ausloten, (Sprach-)Muster infrage stellen, Räume erkunden und aufzeigen. Das oulipistische Schreib-Experiment als Selbst­(er)findungs­akt. So jedenfalls führe ich in meinen Schreibwerkstätten Übungen ein, in denen Tabus oder Contraintes eine Rolle spielen.
Meine diesbezüglichen Lieblingsübungen sind: 1. Nur einsilbige Wörter sind erlaubt. 2. Kein Satz darf mehr als vier Wörter haben. 3. Der Text muss ohne Verben (wahlweise Nomen) auskommen (s. auch Blog-Eintrag vom 6. 4. 2015: OuLiPo I; s. auch Blog-Einträge vom 7. 7. 2014: Schlangengedicht nach Meret Oppenheim, und vom 28. 7. 2014: Einsilbig schreiben, und vom 19. 5. 2015: Zwei-Sätze-Texte).
Empfohlen sei hier noch, erst einmal selbst das Schreiben mit Tabus oder Contraintes auszuprobieren, denn nur, wenn ich als Schreibpädagogin vom Effekt überzeugt bin, kann ich das oulipistische Schreiben so vermitteln, dass es nicht als Joch, als einengend und bar jeden Spaßfaktors empfunden wird.


8. Mai 2015

Die Freiheit im Denken trainieren

Heimspiel für Jamal Tuschick

Am 18 Februar war’s – die Mittwochsabendsschreibwerkstattgruppe und ich ließen die Schreibwerkstatt ausfallen, um Jamal Tuschicks Heimspiel zu sehen, vor allem natürlich zu hören. In der Offenen Schule Waldau (OSW) war er zu Gast beim HR2-Gespräch Heimspiel (Moderator Martin Maria Schwarz). Tuschick (Jg. 1961) ist in Waldau aufgewachsen, er bezeichnet sich (erwartungsgemäß) nicht als Heimatdichter à la Hermann Löns, sondern als „Regionalist“, will aber die Kategorie der Heimatliteratur revitalisieren. Das tut er auf eine ganz spezielle Art. Bereits als jugendlicher Schüler der OSW hat er sich „auf unmittelbare Art den Dingen genähert“ und beschlossen, „die Dinge absichtlich schön zu finden“, um „Idyllenmalerei aus Mutwillen“ zu betreiben. Er sagt mit oder nach André Gide: „Wir sind da universal, wo wir persönlich sind.“ Und postuliert, Walter Benjamin folgend, dass die kritische Reflexion über Heimat zu einer Heimatliteratur gehört, die nicht nur den nostalgisch-rückwärtsgewandten Blick auf das Gute meint. Heimatliteratur sei historisch auch immer eine Antwort auf Großstadtliteratur gewesen, konstatiert Tuschick. Er, der heute in Berlin lebt (nach vielen Jahren in Frankfurt/Main), ist nicht im Provinziell-Verklärenden stecken geblieben, orientierte sich an James Joyce, Wilhelm Genazino und Peter Kurzeck und hat textlich einen ganz spezifischen Mix aus sprachgewaltigem Bewusstseinsstrom, historischen Tatsachen, persönlich Beobachtetem und reflektiert Erzählerischem zu bieten. Sein Schlusssatz: „Die Freiheit im Denken muss man eben auch trainieren.“


4. Mai 2015

(M)eine ideale Schreibgruppenleitung

Da ist etwas Größeres, was Bedeutung hat

Am Präsenzwochenende Schreibgruppenpädagogik und Schreibgruppendynamik (Masterstudiengang Biografisches und Kreatives Schreiben an der Alice Salomon Hochschule Berlin), das ich jedes Jahr im April abhalte, geht es an einem Tag schwerpunktmäßig um Leitungsfragen. In Interviews loten die Studierenden aus, welche Art Schreibgruppenleitung sie sein wollen. Aus den zu den Interviews entstehenden Texten ragen immer wieder überaus bedeutsame Facetten heraus. In diesem April war ich erstaunt, erfasst, berührt, beglückt von dem, was Rebecca Grießler schrieb. Das Große, für das ich als Schreibgruppenleitung stehe, was mitschwingt, wenn ich lehre, das die Gruppe erfasst, wenn ich verstehe, es sichtbar zu machen ... Freundlicherweise hat Rebecca Grießler mir ihren Text zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt. Hier ist er:

„Die Frage nach dem Konzept hat sie sich vorher noch nie gestellt. Was nicht heißt, dass sie vorher keine Gruppen geleitet hat – im Gegenteil. Als junge Berufseinsteigerin war sie mit wöchentlich vier, fünf Gruppen von verhaltensauffälligen Jugendlichen konfrontiert, und Fragen hat sie sich dabei eine Menge gestellt – die wenigsten aber tatsächlich nach dem theoretischen Konzept. Auch die Rolle der jeweiligen Teilnehmer war eher im Hintergrund angesichts der eigentlichen zentralen Fragen, die sich ihr aufdrängten, die lauteten: Welche Methodiken der Musiktherapie kann ich bei derart gemischten Gruppen überhaupt verwenden? Wie schaffe ich es, alle Gruppenmitglieder zu integrieren und einen gemeinsamen musikalischen Nenner zu finden? Wie überlebe ich das Ganze?!
Derart konfrontiert mit der Realität blieb also die Frage des ,idealen’ Gruppenleiters erst mal peripher. Die stellt sie sich eigentlich erst heute. Und dabei bleibt das Schreib vor dem Gruppenleiter erst einmal unbeachtet, denn Gruppenleiter ist Gruppenleiter, egal ob Schreib, Musik oder sonstige kreative Ausdrucksgruppen. Das Wort ideal bleibt dabei ein wenig auf der Strecke. Ideal – das gibt es in der Theorie. Was die Praxis sie bisher gelehrt hat, ist einzig und allein die Unmöglichkeit, ein stetiges, nicht dynamisches Konzept eines idealen Gruppenleiters durchzuziehen.
Manche Gruppen brauchen starke Struktur. Manche Gruppen können und müssen sich erst mal selbst überlassen werden. Was von der Leitung zu erwarten ist, ist die Flexibilität, in jedem Moment genau das zu bieten, was gebraucht wird, und die einzelnen Teilnehmer im Blick zu haben mit ihren Bedürfnissen und dennoch das Ganze auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Die Gruppenleitung in ihrer Funktion als Therapeut, Pädagoge oder Manager braucht vor allem eins: Persönlichkeit als Bindeglied zwischen den verschiedenen Stunden, Methoden, Situationen. Ein guter Gruppenleiter sollte leben, was er lehrt. Eine gute Gruppe lebt von dessen Fähigkeit, sich selbst-bewusst darzustellen und hundert Prozent Präsenz zu zeigen. Präsenz kann dabei sowohl im Vordergrund als auch im Hintergrund wirken, muss aber vorhanden sein. Und dann gibt es noch einen letzten und wichtigsten Faktor: Ein Gruppenleiter kann eigentlich nur dann gut sein, wenn er weiß, dass er eigentlich auch nur ein Kanal ist.
Selber hat sie sich mehr als einmal als Vermittlerin gesehen von etwas, das um Unmengen größer ist, als das, was von begeisterten Teilnehmern fälschlicherweise ihr zugesprochen wurde. In wirklich guten Gruppenstunden spürt sie es. Und wenn sie es benennen müsste, dann würde sie vermutlich sagen, dass es das Leben ist, dass sich in diesem Moment zeigt. Aus einer idealen Stunde gehen die Teilnehmer hervor und haben das Leben in all seinen Facetten gespürt. Der Erfahrungswert des Erlebten steht dabei im Vordergrund. Spaß, Freude, Humor, aber auch Trauer und Wut waren evtl. vorhanden und können wertgeschätzt werden. Wenn Teilnehmer mit dieser Einsicht nach Hause gehen, dann hat sie ihren Job als Gruppenleiterin gut gemacht.“ (Rebecca Grießler, 11. 4. 2015)


13. April 2015

Duda dududa

Eine Anregung aus der Konkreten Poesie

Nehmen Sie das Gedicht von Gerhard Rühm als Anregung für einen Text. Ob der Text ein Gedicht wird, eine Geschichte oder auch ein Experiment mit Buchstaben oder Lauten – Sie sind frei in der Form und selbstverständlich auch im Inhalt.

uuuuuuuuuuuuuuuuu
uuuuuuuuuuuuuuuuu
uuuuuuuuuuuuuuuuu
uuuuuuuuuuuuuuuuu
uuuuuuuuduuuuuuuu
uuuuuuuuuuuuuuuuu
uuuuuuuuuuuuuuuuu
uuuuuuuuuuuuuuuuu
uuuuuuuuuuuuuuuuu
(aus: Gerhard Rühm: gesammelte gedichte und visuelle texte, Reinbek bei Hamburg 1970)


6. April 2015

Warum Schreibexperimente? Teil 1

Was wir mit den Surrealisten OuLiPo & Co. anfangen können (sollten)

Schon als Kinder spielten wir es auf Kindergeburtstagen oder beim Zusammentreffen mit den Cousins und Cousinen bei den Großeltern, wir nannten es „Onkel Otto sitzt plätschernd in der Badewanne“; mit den drogenabhängigen Jugendlichen, die ich auf dem Weg zum Hauptschulabschluss begleitete, spielte ich es immer, wenn sie vorher aktiv gearbeitet hatten: das Reihumschreibspiel mit oder ohne Umknicken, lieber aber mit – dann gibt es mehr zu lachen.
André Breton, einer der bedeutendsten Vertreter des Surrealismus, beschriebe es als eine Arbeitsmethode, die das kreative Potenzial einer Gruppe wunderbar zur Entfaltung bringen kann: „Die köstliche Leiche wurde, wenn wir uns recht erinnern – und wenn wir so sagen dürfen –, um 1925 in dem alten, jetzt zerstörten Haus Nr. 54 der Rue du Chateau geboren. Der absolute Nonkonformismus und eine völlige Respektlosigkeit waren dort üblich, und es herrschte immer die glänzendste Stimmung. Das Leben war zum Vergnügen da und nichts sonst ... Wenn die Unterhaltung an Schärfe zu verlieren begann – es ging um Tagesereignisse, um Vorschläge, wie das Leben auf witzige und skandalöse Weise in Aufruhr zu bringen wäre –, war es üblich, zu Spielen überzugehen. Anfangs waren es Schreibspiele, so ausgedacht, dass die Elemente des Gesprächs sich in möglichst paradoxer Weise gegenübertraten und dass die menschliche Mitteilung, die dadurch von vornherein abwegig geworden war, den auf­nehmenden Verstand zu einem Maximum an abenteuerlicher Verwirrung auffordern musste. Von dem Augenblick an empfand keiner mehr ein abschätziges Vorurteil gegenüber den Spielen unserer Kindheit, für die wir die gleiche, obschon fühlbar gesteigerte Leidenschaft wie seinerzeit wiederfanden. Deshalb fiel es uns, als wir Rechenschaft ablegen sollten, worin unsere Begegnungen oft so aufregend waren, gar nicht schwer, einhellig festzustellen, dass die Methode der köstlichen Leiche sich nicht wesentlich von jener kindlichen, der kleinen Zettel, unterscheidet ... Was uns tatsächlich an diesen Produktionen begeisterte, war die Gewissheit, dass sie, komme wie es wolle, unmöglich von einem einzigen Gehirn hervorgerufen worden sein können und dass ihnen in einem viel stärkeren Maße die Fähigkeit des Abweichens eigen ist, auf die in der Dichtung nie genug Wert gelegt werden kann. Mit der köstlichen Leiche verfügt man endlich über ein unfehlbares Mittel, den kritischen Geist auszuschalten und dafür der metaphorischen Begabung des Geistes völlige Freiheit zu verschaffen.“
(André Breton, zit. nach Lutz von Werder, Claus Mischon, Barbara Schulte-Steinicke: Kreative Literaturgeschichte, Milow 1992, S. 270)


23. März 2015

Bullshitwörter

Gibt es ärgerliche Wörter?

„Bullshitwörter“ nennt mein Kollege Claus Mischon sie. Als da wären „Achtsamkeit“, „wertschätzen“ oder „runterbrechen“. Sie sind so trendy, all diese Wörter. Wenn du sie sagst, bist du in, wenn du stattdessen „freundlich“, Respekt“ oder „übertragen“ sagst, bist du out. DU gibst dich als Randerscheinung zu erkennen, die Majoritäts­verliebten und deren (die Sprache) dominierende Gurus wenden sich ab. Das sind nun meines Kollegen Claus ärgerlichste Wörter, „schlussendlich“ nicht zu vergessen. Aber welche Wörter sind für mich ärgerlich?
Ist ,ärgerlich’ eine Kategorie, die ich fassen, eine Schublade, die ich füllen könnte? Warum sollte ich etwa „Lügenpresse“ (das Unwort des Jahres 2014) in diese Schublade stecken? Sollte es nicht vielmehr wie andere Wörter auch, etwa „totaler Krieg“, als Bezeichnung für ein Phänomenen, das in einem bestimmten gesellschaftlichen Kontext steht, verwendet werden?
Sind Fotze, Tussi oder Emanze ärgerliche Wörter? Sie entlarven die Haltung der Benutzer. Die Benutzer sind eindeutig ein Ärgernis, aber die Wörter? Sind Hintern, Popo oder Gesäß weniger ärgerliche Wörter als Arsch? Kommt es nicht auch hier auf den Zusammenhang an, auf den soziokulturellen Kontext, in dem ein Mensch sich des einen Ausdrucks bedient und sich mit einem der anderen Ausdrücke lächerlich machen oder ins Abseits stellen würde? (Was ich natürlich auch bewusst tun kann, wenn mir das Benutzen des einen und das Vermeiden des anderen Begriffs wichtig ist oder wenn ich zeigen will, wo ich mich positioniere und wo nicht.)
Gibt es also möglicherweise gar keine ärgerlichen Wörter? Sind wir dann aber nicht erst recht aufgefordert, Kontext und Ziel zu ergründen, um das je passende Wort zu finden?


9. März 2015

Experte oder Sparringspartner?

Wer bin ich, wenn ich Gruppen leite?

Sieben mögliche Leitungsrollen differenziert Jochem Kießling-Sonntag in seinem Handbuch Trainings- und Seminarpraxis (Berlin 2003, S. 134 ff.). Um eine direkte oder indirekte Auseinandersetzung damit, wer ich sein will, wenn ich Gruppen, welcher Art auch immer, leiten will, kommt keine vorbei, warum nicht mit Kießling-Sonntag?

  1. der Experte (für ein Fachgebiet; Gefahr: Einschüchterung, Passivität der Teil­nehmen­den)
  2. der Lehrer (Könner und Vorbild; Gefahr: auf alles eine Antwort, hemmt selbst­verantwortliches Lernen)
  3. der Lernpartner (vertraut auf Kraft der agierenden Gruppe; Gefahr: es allen recht machen wollen, Leitung aus der Hand geben)
  4. der Coach (Unterstützer und Förderer persönlicher Entwicklungen; Gefahr: Vernach­lässigung des Gruppenprozesses)
  5. der Sparringspartner (konfrontiert, ist ehrlich, holt die Welt in die Gruppe; Gefahr: Rollenverliebtheit verhindert Finden realitätstauglicher Lösungen)
  6. der Moderator (Helfer für Prozesse, hält sich mit eigenen Positionen zurück; Gefahr: zu wenig Fach- und/oder Steuerungskompetenz)
  7. der Begleiter (hört zu, hilft, beschleunigt nicht; Gefahr: Gruppenziele bleiben auf der Strecke)


26. Februar 2015

Wer bin ich?

Lehrerin oder Texthebamme?

Als ich am letzten Mittwoch im Wartezimmer meiner Zahnärztin saß, las ich im Stern (Nr. 7, 5. 2. 2005) von Günther Seidler, Traumatologe, Arzt und Analytiker: Er forscht zum Erfolg bzw. Misserfolg von Psychotherapien und ihren Ursachen und äußert neben Erstaunen oder Entsetzen über die Überheblichkeit und Selbstherrlichkeit seiner KollegInnen folgenden Satz: „Wir sind nur die Bergführer, haben Kompass und Wetterkarte, aber den Weg auf den Berg machen wir gemeinsam.“ (S. 49)
Diese Haltung gefällt mir. Sie entlässt mich aus der Gluckenrolle und nimmt mein Gegenüber in die Verantwortung für das eigene Sein. Wenn ich mich nicht als Lehrerin, sondern als Texthebamme bezeichne, spiegelt sich darin eine ähnliche Haltung: Ich stelle mich mit meinem Wissen über Textsorten und Schreibprozesse Menschen zur Verfügung, die schreiben wollen oder müssen, ich helfe beim Gebären, aber schwanger gehen mit ihren Projekten müssen die Schreibenden selbst, und auch für die Ausformulierung sind sie selbst verantwortlich.


12. Januar 2015

Paris – Hauptstadt der Welt

Der Tag danach

Ich bin
Ich bin Kirsten
Ich bin ich
Ich bin Atheistin
Ich bin weiß
Ich bin gelb
Ich bin schwarz
Ich bin
Ich bin nicht wie
Ich bin wie
Ich bin sie
Ich bin du
Ich bin rot
Ich bin Frau
Ich bin trans
Ich bin
Ich bin nichts
Ich bin
Ich bin nicht Bin Laden
Ich bin Härte
Ich bin Verzeihen
Ich bin klar
Ich bin traurig
Ich bin Aktion
Ich bin gelähmt
Ich bin Traum
Ich bin
Ich bin so Ich bin laut
Ich bin ohne Scham
Ich bin alt
Ich bin Schreibende
Ich bin deutlich
Ich bin sehend
Ich bin
Ich bin Herz
Ich bin Europa
Ich bin Judith
Ich bin nicht Papst
Ich bin
Ich bin Versöhnung
Ich bin dabei
Ich bin anders
Ich bin
Ich bin bunt
Ich bin verwandt
Ich bin unerwandt
Ich bin unerwartet
Ich bin lahm
Ich bin links
Ich bin still
Ich bin beschämt
Ich bin
Ich bin Staunen
Ich bin dort
Ich bin hier
Ich bin
Ich bin in Gedanken
Ich bin nie so
Ich bin nicht Hass
Ich bin Unikum
Ich bin universell
Ich bin unterwegs
Ich bin klein
Ich bin Stecknadel
Ich bin Mensch
Ich bin ein Stern
Ich bin ein Wir
Ich bin alle
Ich bin
Ich bin nicht Karl
Je suis Charlie

Geschrieben zum Semesterzwischentreffen der Montagsmorgensschreibwerkstatt, das heute bei Nicole Ohm-Hansen in Kaufungen stattfand. Nicole hatte die Schreibaufgabe gestellt: Der Tag danach. Ich schrieb heute direkt nach den Morgenseiten diesen seriellen Text, um ihn dann zwischen Croissants, Brie und Café au Lait vorzulesen.


23. Dezember 2014

Geschlechterfragen

Binnen-I, Sternchen oder Ignoranz

Ich mag Harald Martensteins Kolumnen. Ich mag sie auch, wenn er damit etwas in mir trifft, sodass ich schlucken muss. Aber seine Kolumne im ZeitMagazin vom 4. Dezember 2014 mag ich nicht. Sie zeugt von Ignoranz gegenüber einer Tatsache, der er sich sicherlich ansonsten nicht verschließt. Gegenüber der Tatsache nämlich, dass Sprache und Sprachstrukturen unser Denken, unsere Ich- und Weltwahrnehmung prägen. Selbst bei männlichen CSU-Politikern hat es sich durchgesetzt, die Menschen (mit denen man es sich natürlich auch nicht verscherzen will, wer weiß, welche emanzipierten Frauen vielleicht doch überlegen, einen CSU-Mann zu wählen) mit „liebe Wählerinnen und Wähler“ anzusprechen. In der Annahme, dass Harald Martenstein nicht erzkonservativ und insgeheim Anhänger der These ist, dass Männer in die Öffentlichkeit und Frauen aus dieser heraus gehören, erstaunt es um so mehr, dass zwar ein Horst Seehofer sich die Nennung zweier Geschlechter angewöhnt hat, dass aber ein Martenstein sich kolumnistisch darüber mokieren muss, dass es 1. zwei oder 2. sogar mehr Geschlechter gibt und dass diese 3. auch in der Schriftsprache vorkommen sollten.
Sicherlich kann man sich über manche Versuche, die Geschlechter in der (deutschen) Sprache sichtbar werden zu lassen, lustig machen – Martenstein nennt das Beispiel einer Professorin, die sich Professx betiteln lassen will –, aber ernst nehmen kann ich eine Kolumne, die den Anspruch hat, gesellschaftliche Seltsamkeiten aufzudecken, nur, wenn dann nicht das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wird, in diesem Fall: der Versuch an sich, Frauen sprachlich sichtbar zu machen, verunglimpft wird.
Haben doch 2013 die Universitäten Leipzig und Potsdam beschlossen, in ihren offiziellen Verlautbarungen das generische Femininum einzuführen, d. h. dass einfach die Wörter Professor in und Studentin verwendet werden, denn die männliche Form – Professor bzw. Student – ist ja darin enthalten. Seit einigen Jahren versucht die Trans-Queer-Szene, in der sich Menschen treffen, die Schwierigkeiten haben, sich in der klassischen Zweigeschlechtlichkeit zu verorten. Sie wählen den sogenannten Genderstern, also z. B. für sich transsexuell definierende Personen Trans*.
In ihrem unaufgeregten und lesenswerten Aufsatz Liebe PCs! in der EMMA (Januar/Februar 2015, S. 74–75) diskutiert Luise Pusch die unterschiedlichen Varianten, die Geschlechter in der Schriftsprache sichtbar zu machen. Die seit Jahrzehnten die (feministische) Sprachwissenschaft mit ihren Thesen und Forschungen bereichernde Linguistin plädiert für die konsequente Einführung des generischen Femininums (am besten mit einem Stern als i-Punkt), da sich in diesem Frauen, Männer und alle anderen Geschlechter wiederfinden könnten. Ich stimme zu.


27. November 2014

E-Mail-Vernetzung

Fluch und Segen

Im Telefonat einig mit Guido Rademacher: Die Vernetztheiten – auch wenn man kein Handy hat und nicht bei Facebook & Co. unterwegs ist – sind ein Fluch. Gerade heute Morgen habe ich erst einmal 90 Minuten E-Mails bearbeitet, bevor ich anfangen konnte, mich meinen Projekten zu widmen. Einfach alles wegklicken – das geht ja nicht. Das hat man dann von der schnellen und einfachen Kommunikation (es ist ja nicht so, dass ich keine Massenmails verschicken würde, auf die dann 30 Leute freundlicherweise auch reagieren, von denen ich dann wieder auf 15 reagieren muss usw.). Und dann, als ich mich gerade den studentischen Arbeiten widmen wollte, bekam ich eine Mail von Heike Lange, die mich berührte und meinen E-Mail-Frust sofort vergessen ließ: „... weil ich bei Dir zwei große Stärken sehe. Ich finde Du kannst Schreibübungen gut verständlich zusammen fassen, schriftlich erklären, nicht so lapidar, wie andere! Ebenso haben mir, aber immer deine ,Werke’ und Texte von Dir gefallen. Sie sind für mich deine zarte, sinnliche Seite ...“
Ich sollte vielleicht wieder die Regel einführen, dass ich nur morgens eine Stunde und noch mal mittags eine Stunde das E-Mail-Programm eingeschaltet habe ... Und die Notwendigkeit mancher Massenmail und mancher Mitgliedschaft in Verteilern noch mal überdenken ...


24. November 2014

Erfolgreiche Tagung zum Kreativen Schreiben

Perspektiven für die Region Nordhessen

Anlass für die 1. nordhessische Tagung zum Kreativen Schreiben war mein Wunsch nach Austausch und Vernetzung mit Kolleginnen und Kollegen in der Region einerseits, anderer­seits mein Wunsch, das Kreative Schreiben sichtbarer zu machen, es stärker öffentlich, in Institutionen und in den Köpfen, zu verankern. Es kamen 15 schreibpädagogisch arbeitende Menschen und sechs weitere, die sich für das Kreative Schreiben ,einfach so’ interessieren, am 18. November 2014 nach Kaufungen.
Prof. Dr. Norbert Kruse (Grundschuldidaktik Universität Kassel) und ich hielten kurze Vorträge, zur Frage der Bewertbarkeit von kreativ geschriebenen Texten bzw. zur Geschichte der Schreibgruppen in Deutschland. Hauptsächlich aber tauschten sich die Tagungs­teilnehmenden nach der Methode World Café in wechselnden Kleingruppen zu folgenden Fragen aus:

  1. Kann ich das, eine Schreibwerkstatt leiten, und was brauche ich dafür?
  2. Wie motiviere ich Menschen, mein Angebot zu wählen? Wie akquiriere ich Teilnehmende?
  3. Mit welchen Methoden öffne ich zum Schreiben, und mit welchen begegne ich Schreibblockaden?
  4. Schreibe ich als Kursleitung mit? Wie sehen meine Textkritikverfahren aus?
    Wie gehe ich mit Wünschen aus der Gruppe um?
  5. Welche ,Nische’ besetze ich mit welchem Profil bzw. Curriculum – muss ich mir eine ,Nische’ suchen?
  6. Schreibe ich als Selbstausdruck, Selbstvergewisserung oder um Literarisches in die Welt zu setzen?

Einige wunderbar konkrete Perspektiven wurden entwickelt. Ab 2015 wird viermal im Jahr ein öffentliches Schreibcafé stattfinden, das jeweils von einer Schreibpädagogin, einem Schreibcoach etc. geleitet wird; es gibt schreibunerfahrenen Menschen die Möglichkeit, einfach mal einen Abend eine Facette des Kreativen Schreibens zu beschnuppern. Außerdem ist mittelfristig eine Ringvorlesung an der Universität Kassel geplant. Und ein Stammtisch schreibpädagogisch arbeitender Menschen wird eröffnet. Zum ersten Stammtisch lädt Kirsten Alers ein, am 22. Januar 2015 um 20 Uhr ins Eberts (Friedrich-Ebert-Straße, nähe Bebelplatz).


16. November 2014

Re-Traumatisierung

Nicht immer ist Schreiben befreiend

„Erlebtes aufzuschreiben, lässt es erst einmal neu aufflammen, aber dann erlischt es endgültig und wird zum ruhenden Teil der eigenen Lebenschronik.“ Das sagt Hape Kerkeling in einem Interview im STERN vom 2. Oktober 2014, als er gefragt wird, ob ihn das Schreiben seines autobiografischen Romans nicht in den Schmerz zurückkatapultiert habe. Und das ist natürlich wunderbar, wenn das Schreiben solch eine Wirkung hat: Ich schreibe den Schmerz und er erlischt. Ganz so einfach ist das leider nicht immer.
Schreiben befreit, Schreiben schafft Distanz, Schreiben erlaubt es, das Unnennbare, das Grauen zu versprachlichen und damit handhabbar zu machen. Schreiben ist ein jederzeit verfügbares Instrument, das ein hohes Maß an Selbstwirksamkeitserfahrung ermöglicht. Ja, das stimmt. Schreiben ist mittlerweile als Coping-, als Bewältigungstechnik von PsychologInnen, PsychotherapeutInnen und MedizinerInnen als Möglichkeit der Therapie und/oder Selbsttherapie auf der Palette von wohltuend bis lebensrettend anerkannt (leider aber nicht von den deutschen Krankenkassen). Sogar positive Auswirkungen auf das Immunsystem sind bereits nachgewiesen.
Aber um in diesen von Kerkeling postulierten kathartischen Schreibprozess eintauchen zu können, bedarf es einer gewissen psychischen Stabilität. In einer akuten psychischen Krise kann Schreiben, wenn es unkontrolliert außerhalb eines wie auch immer gearteten therapeutischen Settings praktiziert wird, auch die Krise verschärfen, gar eine Re-Traumatisierung auslösen. Auch das kann natürlich gewollt und sinnvoll sein.

(Wissenschaftliche) Literatur zum heilsamen und therapeutischen Schreiben:

  • Silke Heimes: Warum Schreiben hilft. Die Wirksamkeitsnachweise zur Poesietherapie, Göttingen 2012
  • Hilarion Petzold, Ilse Orth (Hg.): Poesie und Therapie. Über die Heilkraft der Sprache: Poesietherapie, Bibliotherapie, Literarische Werkstätten, Bielefeld 2009
  • Annette Rex: Auf der Suche nach dem verlorenen Sinn. Über das Nutzen des Schreibens als Instrument der Bewältigung von Traumata und Krisen, Münster 2009
  • Silke Heimes, Petra Rechenberg-Winter, Renate Haussmann: Praxisfelder des kreativen und therapeutischen Schreibens, Göttingen 2013


3. November 2014

Interview in der Berliner Morgenpost

Schreiben heißt, sich selbst besser zu verstehen

Am 25. 10. 2014 erschien in der Beilage Leben der Berliner Morgenpost ein Interview mit mir: „Schreiben heißt, sich selbst besser zu verstehen“. Die übergeordnete Frage war, ob und wie Schreiben heilsam sein kann. Ein kurzer Auszug:

„Was heißt das: heilsames Schreiben?
Beim heilsamen Schreiben richtet sich – anders als in der Schulmedizin – der Blick nicht auf die Krankheit, sondern auf die Gesundheit, also die Ressourcen, die helfen, eine Krise zu bewältigen. Natürlich wirkt das heilsame Schreiben anders als ein Antibiotikum, das ja auch nur Symptome unterdrückt. Schreiben sollte regelmäßig betrieben werden, so wie Yoga. Dann entfalten sich Selbstheilungskräfte.“

Das ganze Interview kann man hier lesen.


20. Oktober 2014

HNA-Ärger

Was tun mit der Monopol-Tageszeitung in Nordhessen?

Doch, ja, hier will ich mich noch einmal und immer wieder und noch einmal über die Hessisch-Niedersächsische Allgemeine (HNA), die einzige Tageszeitung in der Region, in der ich lebe, aufregen: Sie hat es wieder geschafft, vier kapitale Fehler im Bericht über die Verleihung des 5.Nordhessischen Autorenpreises am 16. Oktober im Regierungspräsidium Kassel zu produzieren.
1. Fehler: Der Name der 3. Preisträgerin ist falsch geschrieben. 2. Fehler: Der Wohnort des 1. Preisträgers ist falsch geschrieben. 3. Fehler: Als Einladender wird nicht der Verein Nordhessischer Autorenpreis e.V. genannt, sondern der Regierungspräsident, der aber ,nur’ Hausherr war. 4. Fehler: Der Text beginnt mit einem Satz über Schreibwerkstätten – der Nordhessische Autorenpreis hat mit Schreibwerkstätten so viel zu tun wie jeder andere Literaturwettbewerb auch, denn natürlich haben manche der Teilnehmenden mal eine Schreibwerkstatt besucht, aber mit diesem ersten Satz wird dem Preis ein Image verliehen, das er so schnell nicht wieder los wird. Wir hatten, weil im Bericht über die Preisverleihung des 4. Autorenpreises 2012 ebenfalls massive Fehler vorgekommen waren, alle Namen und Daten an die Kulturredaktion geschickt sowie der Journalistin die Biografien der PreisträgerInnen und meine Rede gegeben – sie hätte alles richtig machen können!
Es scheint als auf die Berichterstattung in eben dieser Tageszeitung angewiesene Aktive in Nordhessen nur die Haltung zu bleiben: Resignieren und froh sein, dass man überhaupt Öffentlichkeit bekommt – im Interesse der MacherInnen der Zeitung kann das nicht liegen, es ändert sich aber auch nichts.
Alles Wichtige und Richtige findet man auf der Website des Vereins Nordhessischer Autorenpreis e.V.


13. Oktober 2014

Schreiben fängt woanders an

Der erweiterte Schreib- (und Lese-) Begriff

Das Betreuen von Masterarbeiten (eine meiner Aufgaben als Dozentin für Schreibgruppenpädagogik und -dynamik an der Alice Salomon Hochschule Berlin) ist nicht immer nur die reine Freude, aber das Lesen der irgendwann auf meinem Schreibtisch landenden fertigen Arbeiten ist immer die reine Freunde – weil sich mir so viele Dinge aus dem Kontext Kreatives Schreiben in immer wieder neuen Zusammenhängen zeigen und weil ich hin und wieder auch etwas erfahre, das mir so als explizit Positioniertes neu ist.
So erging es mir gerade mit der Arbeit von Sandra Berster: Kreatives Schreiben als inklusives Bildungsangebot. Darin las ich über den erweiterten Lese- und den erweiterten Schreibbegriff. Den erweiterten Lesebegriff entwickelten C. Hublow und E. Wohlgehagen bereits 1978, auf Werner Günthner geht der erweiterte Schreibbegriff zurück, beide sind zu finden in: Lesen und Schreiben lernen bei geistiger Behinderung. Grundlagen und Übungsvorschläge zum erweiterten Lese- und Schreibbegriff, Dortmund 2013.
Lesen wird nicht begrenzt auf das Erlesen und Deuten von Buchstaben, Wörtern, Sätzen und Texten. Der erweiterte Lesebegriff fasst neben dem Erfassen von schriftlichen Texten das ,Erlesen’ von Situationen, Personen und Gegenständen, von Bildern und Piktogrammen, von Signal- und Ganzwörtern als Lesen auf.
Schreiben im erweiterten Sinne meint nicht ausschließlich das Erstellen von Texten auf Grundlage von wörtergestützten Sätzen, sondern auch bildhafte Darstellungen von Situationen, Personen, Gegenständen und Emotionen, das Abzeichnen grafischer Zeichen, das Konstruieren sinnhafter Sätze durch eine Abfolge bildhafter Elemente, das Produzieren von Wörtern mit Hilfsmitteln wie Stempeln. Man könnte auch noch das lustvolle, absichtslose und das Schrift imitierende Kritzeln, das Kinder auf dem Weg zum Schriftspracherwerb praktizieren, dazurechnen.
Und wenn man dann ein bisschen querdenkt ... Nutzen nicht auch einerseits die konkreten PoetInnen und andererseits Institutionen und nicht zuletzt die Neuen Medien den erweiterten Lese- wie Schreibbegriff? Es im Kontext Inklusion bewusst zu tun, ist von einem anderen Interesse geleitet, aber die Ansätze aufzugreifen, ist dann wiederum klug und inklusionsfördernd.


30. September 2014

Die neuen Segeberger Briefe

Ein Muss für SchreibpädagogInnen

Den Segeberger Kreis nenne ich – wenn mich jemand fragt, weil der Name so wenig selbsterklärend ist – gern „eine Art Berufsverband für Schreibpädagoginnen und -didaktiker“. Für mich hat der seit 1982 bestehende Kreis trotz komplett fehlender Gremien- und Lobbyarbeit seit 2002 diese Funktion.
Jedes Jahr im Frühjahr treffen sich Mitglieder und sonstige am Kreativen Schreiben Interessierte an wechselnden Orten in der Republik, um ein Thema schreibkreativ und reflektierend auszuloten. Unser Thema im April 2014 in der Evangelischen Akademie in Meißen hieß Schreiben 21 – Was ist zeitgemäß?.
Die Segeberger Briefe sind eine Zeitschrift für Kreatives Schreiben, die der Segeberger Kreis herausgibt. Das Herbstheft bereitet jeweils die letzte Tagung nach. So heißt das gestern aus der Druckerei gekommene Heft zeitgemäßes schreiben anno zweitausendvierzehn. Es beinhaltet komplette Schreibsettings aus sechs Kleingruppen, Beispieltexte aus der schreibkreativen Gruppenarbeit, Rezensionen, Seminarangebote und den Nachdruck einer Poetikvorlesung des Autors und Alice-Salomon-Poetik-Preisträgers Franz Hohler.

Segeberger Briefe – Zeitschrift für Kreatives Schreiben
ISSN 2193-4495
Nr. 89, September 2014, 180 Seiten, 22 Euro
Bestellung über Kirsten Alers


15. September 2014

Kreatives Schreiben in Nordhessen

Fachtagung in Kaufungen

Eingeladen sind Lehrende und Veranstalter aus den Universitäten, der Erwachsenenbildung und freie Anbieter im Arbeitsfeld des Schreiben-Lehrens in der Region Nordhessen. Einem Überblick über die jüngere Entstehungsgeschichte des Kreativen Schreibens in Deutschland (Referentin Kirsten Alers) sollen Kleingruppenworkshops und Debatten folgen. Das Programm sieht eine Vorstellung der Schreibgruppenpädagogik ebenso vor wie die Vorstellung der Best Practice von Teilnehmenden.
Prof. Dr. Norbert Kruse, Deutschdidaktiker an der Universität Kassel, lädt nach seinem Vortrag „Kreatives Schreiben und Bewertung von Texten – ein Widerspruch?“ zur Diskussion ein.
Ausführlich kann über die Konzeptionsunterschiede in den Angeboten diskutiert werden, etwa zum Umgang mit Textkritik, zur Frage des Mitschreibens durch die Leitung oder der Problematik von Öffentlichkeit und Veröffentlichung. Außerdem kann ein Austausch darüber stattfinden, wie sich die Lehrenden für ihre Aufgabe qualifizieren, was Schreibgruppenleitungen mitbringen sollten. Nicht zuletzt kann erörtert werden, wie Kooperationen in der Region entwickelt und weitergeführt werden können.
Um 20 Uhr liest der Autor Thommie Bayer aus Die kurzen und die langen Jahre. Er berichtet zudem aus des Dichters Werkstatt.

Termin: Dienstag, 18. 11. 2014, 14-22 Uhr
Ort: Kaufungen, Tagungshaus, Kirchweg 3
Kosten. 25 Euro (inkl. Lesung)
Anmeldung: vhs Region Kassel (Kursnummer N 2116), Tel. (05 61) 10 03 16 81
Anmeldeschluss 6. 10. 2014


25. Juni 2014

Ich bin drin!

Berliner Anthologie erscheint heute

„Schreiben? Schreiben! Oder: Woher kommt die Lust am Schreiben?“ – so der Titel meines Essays in der Berliner Anthologie, die heute erscheint.
Das ist ja nun nicht meine erste Veröffentlichung zum Thema Schreiben, aber vielleicht die beste, auf jeden Fall die persönlichste. Ich fühle mich geehrt und bedanke mich (auch an dieser Stelle) bei Herausgeber Andreas Dalberg für seine ermutigend-kritische Begleitung und für die Einladung, zur Präsentation am 10. Juli mein Essay zu lesen.

Klappentext:
Hier wird das lyrische Ich verloren und wiedergefunden, der Weg in das Innere des Schreibens vermessen und der Fabulierlust auf den biographischen Grund gegangen: In den abwechslungsreichen Essays der ersten Berliner Anthologie, die mal feuilletonistisch oder literarisch, wissenschaftlich oder philosophisch sind, berichten die Autorinnen und Autoren von ihren gedanklichen Spaziergängen durch die Schreiblandschaften. Sie suchen Antworten auf Fragen, die sich im Lauf jeder Schreibbiographie stellen: Ist Schreiben nur das Zuhause für professionelle Dichter? Ist die Neurose der Protagonistin auch die eigene? Wie lässt sich der Punk-Spirit im Schreiben (wieder)entdecken? So unterschiedlich die Annäherungen, so verschieden die Perspektiven. Denn Schreiben mag vieles sein, eines aber sicher nicht: auf einen simplen Begriff zu bringen. Die Berliner Anthologie spiegelt diesen Facettenreichtum heutiger Schreibräume und spricht daher ebenso von Wortfiguren und Schreibwerkstätten wie von Schriftstellerei.

Andreas Dalberg (Hg.): Berliner Anthologie. Essays rund um das Schreiben, Roos & Reiter, Berlin 2014, ISBN 9783944283043, 172 Seiten, Paperback, 12,80 €

Buchpräsentation: Donnerstag, 10. Juli 2014, 20 Uhr im ,Naumann 3’ (Naumannstraße 3, Berlin-Schöneberg, S-Bahnhof Julius-Leber-Brücke), Eintritt frei


22. Juni 2014

Sechste Schreibanregung

Himmel. Hölle. Heimatkunde.

Der Countdown läuft. Die ,Odenwaldhölle’ ging 2013 durch die Medien. Nein, nicht die Odenwaldschule, die auch, ja, aber die medial erzeugte ,Odenwaldhölle’ hat uns, den Vorstand des Vereins Nordhessischen Autorenpreis e. V., zum Titel unseres 5. Literaturwettbewerbs angeregt: HIMMEL. HÖLLE. HEIMATKUNDE.
Jana Ißleib, Carmen Weidemann und ich freuen uns über Prosa-, Lyrik- und experimentelle Texte, die bis zum 17. Juli 2014 eingereicht werden können. Die Ausschreibund mit allen Bedingungen findet man hier: Nordhessischer Autorenpreis.


22. Juni 2014

Abänderung

Voltaire und das Schreiben

Über Literatur und Aufklärung lässt sich nicht reden, ohne auch über Voltaire zu reden. Die Aufklärung aber soll hier nicht Thema sein, sondern Voltaires viel zitierter, auf Postkarten und in Schreibratgebern zu findender Satz. „Jede Art zu schreiben ist erlaubt, nur nicht die langweilige.“

Ich folge dieser Aussage nicht, sondern sage:

Welches Schreibprodukt – denn um dieses geht es Herrn Voltaire und all seinen den Satz zitierenden Fans wohl – langweilt, ist auf Seiten der Lesenden zunächst einmal eine Frage des Geschmacks, des persönlichen Hintergrunds und des Interesses am Gegenstand. Wer also sollte allgemeingültig entscheiden, welcher Text langweilt und welcher nicht?
Auf Seiten der Schreibenden gelten die gleichen Fragen – und (mindestens) zwei weitere kommen hinzu: 1. Was passiert, wenn ich mir verbiete, langweilig zu schreiben? Die Antwort: Ich laufe Gefahr, mich zu blockieren. 2. Warum soll ich nicht langweilig schreiben dürfen? Die Antwort: Ich darf schreiben, wie ich es für richtig halte, denn die Kategorie Langeweile hat für den Akt des Schreibens keine Relevanz.
Und oh, wie entlastend kann es sein, langweilig zu schreiben, einfach zu schreiben, so schön langweilig – und plötzlich macht es klick und ich bin im Flow. Vielleicht schreibe ich immer noch langweilig, aber das ist in diesem Zustand wirklich vollkommen irrelevant.


17. Juni 2014

Wenn Studieren glücklich macht

Bettina Völter beim 2. Alumni-Treffen

„Der Studiengang hier ist möglicherweise der einzige an dieser Hochschule, der glücklich macht.“ Nicht immer, nicht jeden Tag, aber grundsätzlich kann man Bettina Völter, Mitglied des Rektorats der Alice Salomon Hochschule, nur zustimmen. Der Studiengang, der ihrer Meinung nach glücklich macht, ist ,meiner’: der Masterstudiengang Biografisches und Kreatives Schreiben. Vor fast zehn Jahren ist er entstanden, zum 13. Juni hatte die Studiengangsleitung, Prof. Dr. Ingrid Kollak, zum 2. Alumni-Treffen eingeladen, zu dem sich aus sieben der acht bisherigen Jahrgänge ehemalige und noch Studierende einfanden. Außerdem folgten mehrere DozentInnen sowie zwei der GründerInnen, Lutz von Werder und Barbara Schulte-Steinicke, der Einladung. Und noch mehr Feines hatte Bettina Völter gefunden: Bemerkenswert an diesem Studiengang sei, dass man die Möglichkeit habe, Studium und eigene Erfahrungen ganz eng miteinander zu verknüpfen, und im Schreiben selbst zu erleben, wie „ungeborene Ideen gehoben“ werden könnten. Zudem sei der Studiengang nicht etwa ein Anachronismus, sondern ein „Gegengewicht“ zu dem, wie das Schreiben sich medial und in seiner Funktion verändert habe. Ich bin – als Dozentin für Schreibgruppenpädagogik und -dynamik – gern Teil dieses Gegengewichts.
Weitere Informationen: Alice Salomon Hochschule Berlin.


9. Juni 2014

Das Böse in der Literatur

Ilija Trojanow zu Besuch in Kassel

Jedes Jahr vergibt die Universität Kassel an einen zeitgenössischen Schriftsteller die Brüder-Grimm-Professur. 2014 war Ilija Trojanow eingeladen, eine Vorlesung und ein Seminar zu halten sowie aus seinem Werk zu lesen. „Das Böse in der Literatur“ – der Titel des Seminars hatte mich nicht besonders gereizt, um so erstaunlicher, wie der frühe Abend des 3. Juni in mir nachhallt.
Trojanows These: In der zeitgenössischen Literatur werde nicht die zentrale Frage gestellt, wie der Mensch ins Böse abgleitet. Wie es möglich ist, dass Menschen (wie in den totalitären Gesellschaftsordnungen des 20. Jahrhunderts massenhaft geschehen) FreundInnen, NachbarInnen, KollegInnen und Familienmitglieder sowie vom Staat als nicht geduldet definierte Personen denunzieren. Ob es heute nicht auch möglich ist. Ob ich nicht auch ... Das Abgleiten in den Sog des sogenannten Bösen werde in der Literatur nicht dargestellt. Es werde totalitären Regimes oder AusnahmetäterInnen in die Schuhe geschoben – die Möglichkeit des individuell und kollektiv sich entwickelnden Bösen (wie es sich in den Romanen des 19. Jahrhunderts, etwa bei Dostojewski oder Dickens manifestiere) sei (literarisch) abgeschafft.
Einen die These widerlegenden Einwurf aus dem Publikum ließ Trojanow gelten: Landgericht von Ursula Krechel (Deutscher Buchpreis 2012).
Er selbst versuche in seinem Schreiben die Fragen zu umkreisen, auf die die Moderne keine Antwort habe – wozu sonst lohne es sich, die eigene Lebenszeit zu geben?! Als eine mögliche Lösung für eine zeitgemäße literarisch-ästhetische Gestaltung des Bösen – der systemischen Zwänge und der individuellen Bereitschaft, sich diesen zu beugen – sieht er im polyphonen, collagierenden Arbeiten. Er mischt Dokumente mit Literarisierungen mit dem Ziel, dem Leser den Boden unter den Füßen wegzuziehen, weil dieser nicht mehr klar erkennen kann, was Gut und was Böse ist, um dann herausgefordert zu sein, eine Lösung für sich zu finden: Wie will ich handeln, was will ich tun und was nicht?
Ja, wozu auch sonst schreibe ich? Ja, wozu auch sonst lese ich?
Drei Leseanregungen möchte ich geben:
1. Agota Kristof: Das große Heft (sich während des 2. Weltkriegs physisch und psychisch abhärtende Jungen dokumentieren ihre Handlungen emotionslos-dokumentarisch in einem Heft), Hamburg 1987
2. Ursula Hegi: Die Andere (wie sich während der Nazi-Zeit das Denunziantentum in eine kleine Stadt im Rheinland einschleicht, erzählt aus Sicht einer kleinwüchsigen Frau), Reinbek 1998
3. Juli Zeh: Spieltrieb (wie Jugendliche unter sozialem Druck und in Parallelwelten, in denen scheinbar keine Tabus herrschen, in kalte und gleichsam verzweifelte Inhumanität abgleiten), Frankfurt/M. 2004


14. Mai 2014

Himmelsstürmerinnen-Lesung

Frauenfrühstück in Röhrenfurth

Es war still im Saal, kaum geatmet haben die 50 Frauen, so schien es uns beim Lesen. Das ist ein Geschenk, wenn Zuhörende mitgehen, mitlachen, mitseufzen ... Die Frauenschreibwerkstatt war eingeladen, am 10. Mai zum einmal im Jahr stattfindenden Frauenfrühstück in der evangelischen Kirchengemeinde Röhrenfurth (Melsungen) einen kulturellen Beitrag zu leisten.
Besonders berührt waren die Zuhörerinnen von den Texten, die sich in fiktionaler Form mit der 900-jährigen Geschichte des nahe gelegenen Klosters Breitenau (Guxhagen) auseinandersetzten – wissen doch alle in der Region, dass das Kloster auch KZ war, auch Mädchenerziehungsheim mit Schwarzer Pädagogik, auch psychiatrische Anstalt.
Gedenkstätte Breitenau | Regiowiki HNA

Gelesen haben KIrsten Alers, Monika Ehrhardt-Müller, Gabi Willius und Dorte Schätzle aus der Mittwochs­abends­schreib­werkstatt.


28. April 2014

Schreiben ist …

… forschen … lachen … festhalten … ausprobieren … brüllen … sagen … eindringen … ausatmen … lernen … jubeln … streiten … aufdecken … weinen … therapieren … weis­sagen … mitteilen … verstehen … erzählen … kritisieren … erfinden … vertreiben … gestalten … über­blenden … ausdrücken … verbinden … fliegen … feiern … fantasieren … überleben …